Der Blinde von Sevilla
Magenschmerzen sind als Leberkrebs diagnostiziert worden, und kein Chirurg ist bereit zu operieren. Offenbar ist sein Tod nur noch eine Frage von Monaten, wenn nicht Wochen. Sie liebt M.G. sehr, und ich weiß, wie hart sie diese Nachricht trifft. Sie fragt nach Javier, ein weiteres männliches Wesen, das sie in ihr Herz geschlossen hat. Ihr Brief lässt mich wehmütig daran denken, wie es mit P. und mir einmal war. Der Gedanke treibt mich von meinem Platz hoch und lässt mich im Zimmer auf und ab laufen. In meinem Kopf ist ein Eindringling. Ich suche nach ihm und finde das Gesicht des Mannes vom Strand. Ich weiß, dass ich nicht mehr zur Ruhe kommen werde, bis ich weiß, wer er ist.
7. April 1960, Tanger
Ich arbeite nicht mehr. Ich kann nicht. Mein Geist hat keinen Fixpunkt. Ich ertrage es nicht, im Atelier zu sein, sondern wandere durch die Stadt und die Medina, schaue in die Gesichter und warte darauf, den Fremden zu finden. Er ist meine neue Obsession. Ich lebe in meinem Kopf, dessen Logik verworren ist wie die Straßen der Medina und jedes Mal in eine Sackgasse führt.
10. Mai 1960. Tanger
Ich hatte die Hoffnung fast aufgegeben, als ich, den Boulevard Pasteur hinunterschlendernd, von einem Objekt in einem der Touristen-Läden seltsam angezogen werde, einer Skulptur aus geschnitzten Knochen. Als ich den Blick hebe, sehe ich, dass der Fremde in dem Laden arbeitet. Zunächst halte ich ihn für den Besitzer, bis ich einen alten Mann entdecke, der das Geld kassiert. Ohne den Fremden zu beachten, der einige Touristen bedient, betrete ich den Laden und frage den alten Mann nach der Skulptur im Fenster. Er erklärt mir, dass sie von seinem Sohn ist. Ich bin beeindruckt und frage nach seinem Namen, der, wie er sagt, Tariq Chefchaouni lautet. Der alte Mann sagt, dass sein Sohn eine Werkstatt am Stadtrand hat, an der Straße nach Asilah. Während wir reden, sehe ich neben seiner Kasse einen kleinen Korb mit billigen Ringen. Vier davon sind schlichte Silberringe mit einem Achatwürfel. Jetzt verstehe ich P.s Verwunderung – oder war es Furcht?
Als er den Namen zum ersten Mal las, sprang Falcón auf und drehte mit geballter Faust eine Runde durchs Arbeitszimmer. Morgen würden sie Personalausweisnummer und Adresse des Mörders haben. Er trank seinen Whisky und goss sich dann ein weiteres Glas ein.
2. Juni 1960, Tanger
M. schreibt mir, dass M.G. IV gestorben ist, nachdem er zwei Monate länger überlebt hatte als erwartet. Sie ist verzweifelt. Ich schreibe ihr einen Beileidsbrief und sage ihr, dass sie die Stadt, den Ort ihrer Trauer, verlassen und nach Marokko kommen soll. Das ist egoistisch. Ich brauche eine Gefährtin. P. und ich bewegen uns umeinander wie Fremde – besser gesagt, als wäre ein Fremder in unserer Mitte. Ich sollte sie nach Tariq Chefchaouni fragen. Ich als ihr Ehemann sollte sie fragen, mit wem sie sich am Strand getroffen hat. Aber ich tue es nicht. Warum nicht? Ich krame in meinem Kopf auf der Suche nach Gründen und finde keinen, außer dass mir die Vorstellung offenbar Angst macht. Ist das möglich bei mir, dem Veteran von Krasny Bor? Doch es ist keine körperliche Angst. Ich fürchte vielmehr, meine Verwundbarkeit zu offenbaren. Erstaunt stelle ich fest, dass all das schon im vergangenen Sommer begonnen hat und mich schon seit einem Jahr quält.
3. Juni 1960, Tanger
Ich gehe zurück zum Boulevard Pasteur und stehe vor dem Laden, bis der junge Mann gegangen ist. Dann gehe ich hinein und frage den Vater, was er für die Knochenskulptur im Fenster verlangt. Er erklärt, dass sie unverkäuflich ist (eine Taktik, die ich durchschaue), und wir feilschen. Ich spiele das Spiel nicht gut, weil es mich nervös macht, dass T.C. zurückkommen könnte. Schließlich bezahle ich 30 Dollar, was wie eine fantastische Summe anmutet, bis ich die Skulptur in meinem Atelier eingehender betrachte und feststelle, dass sie ein beeindruckendes Werk ist. In ihren Linien und Konturen liegt eine atemberaubende Schönheit, die mit dem makabren Material kontrastiert. Ihre Aussage über die Qualität des Menschseins ist ambivalent. Ich fange an zu glauben, dass der alte Mann doch nicht geschickt verhandelt, sondern in der Tat etwas Unverzeihliches getan hat.
18. Juni 1960, Tanger
So bin ich. P. hat Geburtstag, und anstatt ihr wie üblich Schmuck zu schenken, packe ich die Knochenskulptur ein. Am frühen Abend lade ich sie in mein Atelier ein und serviere Champagner. Es ist noch hell, und vom Meer her weht eine
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