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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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sanfte Brise. Wir schweben in einem perfekten Augenblick, als ich ihr das Geschenk überreiche. Sie ist aufgeregt, weil ich ihr normalerweise immer eine kleine Schachtel überreiche und kein Paket von 40 Zentimetern Größe. Wie ein kleines Mädchen reißt sie die Verpackung ab. Ich beobachte sie wie ein Wolf und erkenne es in dem Moment, in dem sie sie ausgewickelt hat. Für den Bruchteil einer Sekunde zerbricht ihr Gesicht in zwei. Ihre Augen werden weit und treten hervor. Dann erholt sie sich. Wir wenden uns wieder dem Champagner zu. Es wird dunkel. Ich merke, dass sie mich ansieht, als ob ich ein seltsames Tier wäre, das menschliche Züge angenommen, aber unachtsam einen haarigen Huf vergessen hat. Ich habe bekommen, was ich wollte. Sie hat bekommen, was sie sich wünscht. Das Objekt steht auf ihrer Kommode.
    In einem Brief teilt M. mir mit, dass sie wegen juristischer Auseinandersetzungen aufgehalten wird. Offenbar sind die Kinder aus M.G.s vorherigen Ehen der Ansicht, dass ihr nicht die Hälfte seines Vermögens zusteht.

    3. August 1960, Tanger
    Ich suche T.C.s Werkstatt auf und erfahre, dass er im Sommer nie hier ist. Das Haus besteht aus nicht mehr als zwei Zimmern mit einem Garten dahinter und steht einzeln, sodass es offensichtlich nicht zum Haus der Familie gehört. Abends komme ich zurück, warte und beobachte. Alles ist still. In der nächsten Nacht kehre ich erneut zurück und klettere über die Mauer in den üppigen Garten, der nach feuchter Erde riecht. In der Mitte steht ein gemauerter Wassertank, der bis zum Rand voll ist. Am Ende des Sommers sitzt das Schloss auf der Rückseite des Hauses locker, und die Tür lässt sich leicht öffnen. In dem Zimmer befinden sich lediglich eine Strohmatratze auf einem Lattenrost und eine Kalebasse in der Ecke, sonst nichts. Vor der Tür ins nächste Zimmer zögere ich, als hätte ich eine Vorahnung, dass sich mein Leben ändern wird, wenn ich diese Schwelle übertrete. Das Zimmer ist sein Atelier und enthält die gleichen Utensilien wie meins. Der Strahl meiner Taschenlampe wandert über Eisenarbeiten, Steinskulpturen, Hornschnitzereien und Schmuck, bis er den Rand eines Gemäldes erfasst.
    Ich richte meinen Strahl darauf und werde davon angezogen, als wollte ich mich in mein eigenes Schwert stürzen. Auf der anderen Seite des Zimmers stehen drei abstrakte Akte. Man betrachtet diese Werke sicher nicht idealerweise im von Motten umflatterten Strahl einer Taschenlampe, aber selbst in diesem kümmerlichen Licht sticht ihre Qualität hervor. Es sind zwei liegende und ein stehender Akt, und obwohl es abstrakte Gemälde sind, weiß ich sofort, dass das dargestellte Objekt P. ist. Ihr Anblick trifft mich ins Mark. Es sind die perfekten und wunderschönen Weiterentwicklungen der Kohlezeichnungen von P. die ich vor 15 Jahren geschaffen habe. Heiße Tränen rinnen über meine Wangen, und mir kommt der Gedanke, dass dies rechtmäßig der Abschluss meines Werkes hätte sein sollen.
    Auf dem Tisch liegt ein Skizzenblock, den ich einfach durchblättern muss. Die Zeichnungen sind von allerhöchster Qualität, gegenständliche Detailansichten, eine Hand, ein Knöchel, ein Hals, große schwere Brüste, ein Po, eine Hüfte und ein Bauch. Sie sind faszinierend. Dann stoße ich auf mein brillant skizziertes Gesicht und verfolge die Entwicklung. Ich werde hässlicher und hässlicher, bis ich zuletzt rechts unten in der Ecke als eine Karikatur der Brutalität, eine Schreckensgestalt aus einem Comic-Heft ende. Meine Hand zittert vor Wut. Seine Vision macht mich selbstgerecht. Jetzt bin ich zu allem fähig.

    30. Oktober 1960, Tanger
    Der Sommer ist vorüber, die Touristen haben uns verlassen. Ich gehe aus dem Haus und warte auf dem Markt auf P. Sie überquert den Petit Soco und steuert den Taxistand am Grand Soco an, wo sie in einen alten Peugeot steigt. Ich folge ihr in dem nächsten Taxi und dränge dem Fahrer beständig weitere Dirham auf, während ich ihm Anweisungen gebe. Der Peugeot hält vor T.C.s Werkstatt. Sie steigt aus und wird hereingebeten. Ich sage dem Taxifahrer, er soll auf mich warten, und steige über die Gartenmauer. Die Schlafzimmertür steht offen. Ich höre T.C. reden und P.s Lachen aus dem Atelier. Die Tür ist angelehnt. Ich sehe, wie sie aus ihrer Unterwäsche steigt und nackt zu einem zerknüllten Laken geht, das auf dem Boden liegt. Sie kniet sich mit dem Rücken zu T.C. hin, unter dessen Kaftan bereits die albernen Anzeichen seiner Erregung auszumachen

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