Der Blinde von Sevilla
verstümmeln und morden für jemanden, der uns die Illusion vermitteln kann, dass wir an uns glauben? Warum lassen wir Genies damit davonkommen?«
»Weil wir uns schnell langweilen«, sagte Falcón.
»Dein Vater hatte Recht«, sagte die Stimme. »Du siehst die Dinge anders.«
»Wann hat er dir das erzählt?«
»Es steht irgendwo in den Tagebüchern.«
»Mir hat er immer gesagt, dass ich mit Normalität gesegnet bin.«
»Das lag daran, dass er einen Verdacht hatte.«
»Was für einen Verdacht?«
»Das ist nicht die vorgesehene Reihenfolge«, sagte Sergio.
»Dann sag mir die richtige Reihenfolge.«
»Was glaubst du, was für ein schreckliches Monster dein Vater war?«, fragte die Stimme. »Bis jetzt wissen wir schon, dass er ein Mörder, ein Pirat, ein perverser Hedonist, ein Betrüger und ein Dieb war. Die Welt ist voll von solchen Menschen. Es sind ziemlich gewöhnliche Monster, würde ich sagen. Was würde jemanden außergewöhnlich machen?«
»Mein Vater war charismatisch. Er war charmant und witzig, intelligent …«
»Man kann schließlich nicht mit von den Lippen tropfendem Blut vor die Tür gehen«, sagte Sergio. »Man muss schon zwei Gesichter haben, sonst erledigt einen die Gesellschaft sofort.«
»Er hat die Ambivalenz des Menschseins verstanden, die Tatsache, dass in jedem von uns gut und böse wohnt …«
»Das ist eine Ausrede, Javier«, sagte die Stimme. »Das hat ihn nicht außergewöhnlich gemacht.«
Seine Gehirnmasse schwappte von einer Seite auf die andere, als er sich gegen die Fesseln stemmte.
»Er ist ein Schänder der Unschuld«, sagte Falcón.
»Normal.«
»Ein Missbraucher von Vertrauen.«
»Auch normal, aber schon wärmer«, sagte der Mann. »Versuch, dir das Außergewöhnlichste, das Unfassbarste …«
»Das kann ich nicht. So funktioniert mein Verstand nicht. Vielleicht deiner. Du forschst die Menschen aus und zeigst ihnen dann ihr geheimstes Grauen. Das finde ich außergewöhnlich.«
»Du glaubst, was ich getan habe, wäre monströs?«
»Du hast drei Menschen auf die brutalste …«
»Habe ich nicht.«
»Dann bist du verrückt, und ich kann nicht mit dir reden.«
»Ramón Salgado hat sich lieber erhängt, als sich seinen Abgesang anzuhören.«
»Und du bist trotz deiner tatkräftigen Beihilfe zu seinem Selbstmord unschuldig?«
»Ramón Salgado hat sich zu Tode gewunden.«
»Und was ist mit der unschuldigen Eloisa?«
»Oh, wahrscheinlich leugne ich bloß alles … genau wie du.«
»Die Gesellschaft ist schuld«, sagte Falcón abschätzig.
»Sei nicht trivial. Ich bin nicht gekommen, um mir überkommene Meinungen anzuhören. Ich will kreative Ideen.«
»Du musst mir helfen.«
»Von wem weißt du, dass er dich wirklich liebt oder geliebt hat?«
»Meine Mutter hat mich geliebt.«
»Das ist wahr.«
»Meine zweite Mutter hat mich geliebt.«
»Wie rührend, dass du sie nicht deine madrastra nennst.«
»Und ob es dir gefällt oder nicht, mein Vater hat mich geliebt. Wir haben uns gegenseitig geliebt. Wir standen uns sehr nahe.«
»Wirklich?«
»Er hat es mir gesagt. Er hat es mir sogar in einem Brief geschrieben, der bei den Tagebüchern lag.«
Schweigen.
»Erzähl mir von dem Brief«, sagte die Stimme dann. »Den habe ich nicht gesehen.«
Javier trug ihm den Brief Wort für Wort aus dem Gedächtnis vor.
»Wie interessant«, sagte er. »Und was schließt du aus diesem Dokument, Javier?«
»Dass er mir vertraut hat. Mehr als meinen älteren Geschwistern.«
»Interessant, dass er dich zum Hüter und Zerstörer seiner Werke gemacht hat«, sagte die Stimme. »Was glaubst du, ist in seinem Kopf vorgegangen, als er sich vorgestellt hat, wie du in dieser Kammer, umgeben von seinen minderwertigen Versuchen, das Werk meines Großvaters zu kopieren, diesen Brief liest?«
»Dein Großvater?«, sagte Falcón wie zu sich selbst, und wieder brach an seinem Haaransatz Schweiß aus und rann über sein Gesicht.
»Du hast das Datum des Briefes gar nicht erwähnt«, sagte die Stimme. »Wann hat er ihn geschrieben?«
»An dem Tag vor seinem Tod.«
»Außergewöhnliches Timing.«
»Er hatte bereits einen Herzinfarkt hinter sich.«
»Was ist mit seinem Testament? Wann wurde das aufgesetzt?«, fragte die Stimme.
»Drei Tage vor seinem Tod.«
»Außergewöhnliche Zufälle gibt es überraschend häufig …«
»Was willst du damit andeuten?«
»Wo wurde dein Vater nach seinem zweiten Herzinfarkt gefunden?«
»Am Fuß der Treppe.«
»Da wird er schon gewusst haben,
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