Der Blinde von Sevilla
Herzversagen gestorben war. In seinem Blut hatte man eine extrem hohe Konzentration von Viagra festgestellt. Der Arzt ging davon aus, dass der erhöhte Blutdruck und der extreme Stress in Verbindung mit der fortgeschrittenen Arterienverkalkung des Opfers dazu geführt hatten, dass Raúl Jiménez mehr oder weniger innerlich geplatzt war. Schließlich händigte er Falcón seinen schriftlichen Bericht aus.
Der Weg zurück zum Wagen war ein Spießrutenlauf, und anstatt das Gelände durch das von den Journalisten belagerte Hoftor zu verlassen, wählte Falcón den Haupteingang des Krankenhauses an der Calle San Juan Ribera.
»Man hätte seine Augen schließen sollen«, bemerkte Consuelo Jiménez. »Man kann keinen Frieden finden, wenn die Augen noch offen sind, selbst wenn sie nichts mehr sehen.«
»Sie konnten seine Augen nicht schließen«, erwiderte Falcón zurückhaltend, die Ampel sprang auf Grün, und er bog links in die Calle Muñoz León.
Er fuhr an der alten Stadtmauer vorbei und fand einen Parkplatz in der belebten Straße. Señora Jiménez umklammerte den Haltegriff unter dem Dach so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. In ihrem Gesicht spiegelte sich bereits die Erschütterung über das, was er ihr sagen würde. Noch nie in seiner gesamten Laufbahn waren ihm die Worte so schwer über die Lippen gekommen.
Er erklärte ihr, ohne lange drum herum zu reden und ohne seine eigene Erschütterung zu verbergen, was passiert war. Ja, es war der schlimmste Fall seiner Laufbahn. Zwar hatte er vorher Szenen verarbeiten müssen, die vielleicht schlimmer klangen – beispielsweise die Wohnung in einem Hochhaus am Stadtrand von Madrid mit vier Toten im über und über mit Blut besudelten Wohnzimmer, zwei weiteren Leichen in der Küche, Nadeln, Spritzen und Alufolie in Blutlachen und obendrein mit einem in seinem verdreckten Bettchen wimmernden Kind. Doch das war das zu erwartende Grauen in einer Kultur der Brutalität. Die Folter von Raúl Jiménez hingegen war etwas, das er nicht objektiv betrachten konnte, etwas, das direkt auf seine eigene Fantasie wirkte. Die Vorstellung schierer unbarmherziger Wirklichkeit ohne jeden visuellen Rückzug erschreckte ihn. Nicht einmal im Tod durfte Raúl Jiménez den tiefen Schlaf genießen. Stattdessen mussten seine schreckgeweiteten Augen für immer die Fähigkeit des Menschen zur Grausamkeit bezeugen.
Señora Jiménez hatte zu weinen begonnen, und diesmal weinte sie wirklich. Kein Getupfe an verwischter Mascara, sondern ein echter, von Rotz, Wasser und Würgen begleiteter Zusammenbruch. Javier Falcón wusste um die Brutalität der Polizeiarbeit. Er war nicht der Mann, der diese Frau trösten konnte – schließlich hatte er ihr diese Bilder in den Kopf gepflanzt. In diesem Augenblick bestand der Sinn seines Jobs genau darin, nicht nur die Glaubwürdigkeit dieses emotionalen Schauspiels zu beurteilen, sondern es auch als Chance zu begreifen, als Riss, an dem er seinen Hebel ansetzen konnte. Sie in einen geschlossenen Wagen mitten auf eine belebte Straße zu manövrieren, wo sie nirgendwohin gehen konnte, während draußen eine gleichgültige Welt vorbeirauschte, die keine Ahnung von der Katastrophe hatte, war seine bewusst gewählte Taktik gewesen.
»Waren Sie gestern Abend im Hotel Colón?«, fragte er, und sie nickte. »Waren Sie allein, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren?«
Jetzt schüttelte sie den Kopf.
»War Basilio Lucena gestern Abend bei Ihnen?«
»Ja.«
»Die ganze Nacht?«
»Nein.«
»Wann ist er gegangen?«
»Wir haben auf dem Zimmer gegessen und sind dann ins Bett. Er muss gegen zwei Uhr gegangen sein.«
»Wohin?«
»Nach Hause, nehme ich an.«
»Er ist nicht zum Edificio Presidente gefahren?«
Schweigen. Falcón betrachtete ihr Profil.
»Womit verdient Basilio Lucena seinen Lebensunterhalt?«, fragte er.
»Etwas Nutzloses an der Uni. Er ist Dozent.«
»In welchem Fachbereich?«
»Irgendeine Naturwissenschaft. Biologie oder Chemie – ich weiß es nicht mehr. Wir haben nie darüber gesprochen. Es interessiert ihn nicht. Es ist ein Posten und ein Gehalt, mehr nicht.«
»Haben Sie ihm einen Schlüssel gegeben?«
»Zur Wohnung ?«, fragte sie geradezu entsetzt und schüttelte den Kopf. »Lernen Sie Basilio erst mal kennen, bevor Sie auch nur …«
»Woher wissen Sie, dass ich das nicht schon getan habe?«
Schweigen.
»Haben Sie heute Morgen mit Basilio Lucena gesprochen?«, fragte er.
Sie nickte.
»Was haben Sie ihm erzählt?«
»Ich
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