Der Blinde von Sevilla
Stärke. Dieser unerbittliche Mund. Er fragte sich, wie er schmecken würde, und verbannte den Gedanken augenblicklich aus seinem Kopf.
Sie überquerten die Puente del Generalísimo, und er wechselte das Thema.
»Es ist mir nie zuvor aufgefallen, was für eine francoistische kleine Ecke der Stadt dies ist. Die Brücke. Und diese Straße ist nach Carrero Blanco benannt …«
»Was glauben Sie, warum mein Mann im Edificio Presidente gewohnt hat?«
»Ich dachte, die meisten Bewohner dieses Gebäudes wären bloß der Mode der Toreros gefolgt.«
»Nun ja, mein Mann mochte los toros , aber Franco mochte er noch mehr.«
»Und Sie?«
»Das war vor meiner Zeit.«
»Vor meiner auch.«
»Sie sollten sich die Haare färben, Inspector Jefe, ich hätte Sie für älter gehalten.«
Sie parkten. Falcón rief Fernández an und bestellte ihn in die Jiménez-Wohnung. Señora Jiménez und er nahmen den Aufzug in den sechsten Stock, nickten dem Polizisten an der Tür zu und gingen wieder den leeren Korridor entlang auf den verwaisten Bilderhaken zu. Falcón musste an die entsprechende Sequenz im Film des Mörders denken. Sie nahmen im Arbeitszimmer Platz und warteten schweigend auf Fernández.
»Zeigen Sie Señora Jiménez bitte einfach die Bilder«, sagte er. »In der Reihenfolge, in der sie auch auf den Bändern der Überwachungskameras auftauchen.«
Fernández legte sie nacheinander vor und erhielt jedes Mal eine negative Antwort, bis sie beim letzten Bild die Augen aufriss, blinzelte und ein zweites Mal hinsah.
»Wer ist auf diesem Bild, Doña Consuelo?«
Wie in Trance blickte sie zu ihm auf, als wäre sie von einem Zaubertrick gebannt.
»Es ist Basilio«, sagte sie und bekam den Mund vor Verblüffung nicht mehr zu.
5
Donnerstag, 12. April 2001, Edificio Presidente,
Los Remedios, Sevilla
Wie sollte er es angehen? Falcón widerstand der Versuchung, mit den Fingern über die Tischplatte zu wirbeln wie ein ekstatischer Konzertpianist. Er stützte das Kinn auf die Daumen, spannte die Kiefermuskeln an und strich mit einem Finger über seinen Wangenknochen, während das Adrenalin durch seinen Körper rauschte. Das war es, dachte er. Doch wie sollte er es aus ihnen herausholen? Getrennt oder gemeinsam? Nach kurzem Nachdenken entschied er sich für den Hahnenkampf-Ansatz. Er würde sie gemeinsam in den Ring werfen, flattern und hacken, kratzen und picken lassen.
»Señora Jiménez und ich fahren nach El Porvenir«, informierte er Fernández. »Setzen Sie sich mit Inspector Pérez in Verbindung und helfen Sie ihm, die Prostituierte zu finden. Sagen Sie ihm, dass wir die Unbekannten auf den Überwachungsbändern identifiziert haben.«
Señora Jiménez schlug die Beine übereinander und zündete sich eine Zigarette an. Falcón ging auf den Korridor, um Ramírez auf seinem Handy anzurufen. Er wünschte, er könnte ihn besser leiden.
Ramírez war gelangweilt. Er hatte die nutzlose Aufgabe übernommen, die gefeuerten Angestellten zu befragen, und nach zwei Gesprächen nur in Erfahrung gebracht, dass die Betreffenden froh gewesen waren, von Señora Jiménez wegzukommen. Falcón beobachtete sie, während Ramírez Dampf abließ. Sie spielte mit ihren Fingern, während sie wohl die Ereignisse im Kopf durchging. Falcón brachte Ramírez auf den neusten Stand und bestellte ihn zu Basilio Lucenas Haus, um den Druck auf die beiden Hauptverdächtigen aufrechtzuerhalten.
Falcón fuhr Consuelo Jiménez zurück über den Fluss in die Calle Río de la Plata. Jetzt um die Mittagszeit war der Verkehr dichter. Im Park waren die Jogger unterwegs, und die Pferdeschwänze der Mädchen hüpften fröhlich in der Sonne. Er fand diese Momente der Polizeiarbeit faszinierend – einfach herumzufahren, während ein Verdächtiger einen gewaltigen inneren Kampf zwischen Leugnen und Wahrheit austrug, zwischen der Verfeinerung der Lüge und der Erleichterung durch Strafe und Vergebung. Woher kam der Impuls, der Entscheidungen von solcher Tragweite bewirkte?
Hinter den hohen Türmen der Plaza de España bog er rechts in die Avenida de Portugal. Das Gebäude, das das zentrale Objekt der Ibero-Amerikanischen Ausstellung von 1929 gewesen war, war ihm so vertraut, dass er es normalerweise gar nicht mehr wahrnahm, doch heute faszinierte ihn der rote Backstein vor blauem Himmel, umgeben von wucherndem Grün. Der Anblick rief eine Erinnerung an seinen Vater wach, der, als sie sich im Fernsehen gemeinsam Lawrence von Arabien angesehen hatten, einmal förmlich
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