Der Blinde von Sevilla
erklärte er.
Falcón nannte ihm Namen und Adressen der entlassenen Angestellten und trug ihm auf, sie so bald wie möglich befragen zu lassen. Als Ramírez gegangen war, nahm er das Foto von Raúl Jiménez’ erster Frau zur Hand – Gumersinda Bautista. Er rief in der Jefatura an und bat darum, einen José Manuel Jiménez Bautista zu überprüfen, geboren Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre in Tanger.
Dann lehnte er sich mit den anderen Fotos zurück und blätterte die Bilder all der namenlosen Menschen durch. Darunter war auch eine Aufnahme von Raúl Jiménez an Bord einer Yacht. Er war kaum wiederzuerkennen, keine Spur der späteren Krötenhaftigkeit. Attraktiv und selbstbewusst stand er da, die Hände in die Hüften gestemmt, die Schultern gestrafft, die Brust vorgewölbt. Falcón strich mit dem Daumen über das Foto, um ein vermeintliches Staubkorb abzuwischen, doch bei näherer Betrachtung erwies sich der vermeintliche Fleck als eine Art Wunde an der rechten Brust unweit der Achselhöhle. Er drehte das Bild um – Tanger, Juli 1953 stand auf der Rückseite.
Falcóns Handy klingelte. Der Polizeicomputer hatte für José Manuel Jiménez eine Adresse und Telefonnummer in Madrid ausgespuckt. Er notierte sie und fragte nach Serrano und Baena, zwei weiteren Beamten seiner Truppe, doch die hatten für die Semana Santa frei. Er erteilte Anweisung, dass man sie benachrichtigte und zu ihm in die Jiménez-Wohnung schickte.
Anstatt seine Notizen noch einmal durchzugehen und seinen nächsten Angriff auf die wohl konstruierten Verteidigungslinien der Consuelo Jiménez zu planen, die unbestreitbar weiterhin seine Hauptverdächtige war, griff er unwillkürlich wieder nach dem Stapel alter Fotos. Es gab einige Gruppenaufnahmen, laut Beschriftung auf der Rückseite ebenfalls aus Tanger im Jahr 1954. Er musterte die Gesichter und glaubte, auf der Suche nach seinem Vater zu sein, bis ihm klar wurde, dass er sich viel mehr auf die Frauen konzentrierte. Ob seine Mutter, die sieben Jahre nach Aufnahme dieser Fotos gestorben war, wohl unter all den Fremden war? Der Gedanke, einen nie gesehenen Schnappschuss von ihr zu entdecken, und das in Gesellschaft von Leuten, von denen er nie gehört hatte, und in einer Zeit vor seiner Geburt, faszinierte ihn. Einige der Gesichter waren allerdings zu klein und grobkörnig, und Falcón beschloss, die Bilder mit nach Hause zu nehmen und mit einer Lupe genauer zu betrachten.
Er nahm eine Zigarette aus der Schachtel Celtas und schnupperte daran. Seit 15 Jahren hatte er nicht mehr geraucht. Er hatte es mit 30 aufgegeben, am selben Tag, an dem er auch seine fünfjährige Beziehung mit Isabel Alamo beendet hatte. Und ihr damit das Herz gebrochen hatte, zumal sie annahm, dass ihr Gespräch in einen Heiratsantrag münden würde. Bei dieser schrecklichen Erinnerung brach er unwillkürlich den Filter der Zigarette ab und zündete sie mit dem Feuerzeug auf dem Tisch an. Weil sie eklig schmeckte, legte er sie in den Aschenbecher und lehnte sich zurück, als eine weitere Erinnerung in seinen Gedanken aufblitzte, an den Silvesterabend 1963 in Tanger. Er stand im Schlafanzug an der Treppe, ein kleiner Junge, der den aufbrechenden Gästen, die am Hafen das Feuerwerk ansehen wollten, nur bis zu den Hüften reichte. Mercedes, seine zweite Mutter, die zweite Frau seines Vaters, hob ihn hoch und trug ihn zurück nach oben ins Bett. Und in ihren Haaren haftete derselbe Geruch nach Celtas; irgendein Gast der Party musste dieselbe Marke geraucht haben. Damals gab es in Tanger noch jede Menge Spanier, obwohl die wirklich guten Zeiten lange vorbei waren. Mercedes hatte ihn ins Bett gebracht, ihn heftig geküsst und an ihren Busen gedrückt. An diesem Punkt stieg er aus der Erinnerung aus. Er verfolgte sie nie weiter, weil … er tat es einfach nicht. Interessiert stellte er fest, dass auch dieser Geruch ihn in jene Zeit zurücktragen konnte. Normalerweise dachte er nur an Mercedes, wenn er irgendwo Chanel No. 5 roch, ihr Parfüm.
Ein Klopfen an der Tür holte ihn zurück in die Gegenwart. Im Flur standen Serrano und Baena.
»Das ging ja schnell«, sagte Falcón.
Verlegen schlurften die beiden Männer herein, weil sie annahmen, dass ihr Boss das nur sarkastisch meinen konnte. Sie hatten 40 Minuten gebraucht.
»Der Verkehr«, entschuldigte sich Baena.
Der Anblick der bis auf die Glut heruntergebrannten Zigarette im Aschenbecher verwirrte Falcón. Bei einem Blick auf seine Uhr stellte er erstaunt fest, dass es
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