Der Blinde von Sevilla
schon elf war, ohne dass er bisher etwas erreicht hatte. Er warf einen Blick auf seine Notizen, um festzustellen, wann die Umzugsleute laut Ramírez Mittagspause gemacht hatten, und schickte Serrano und Baena auf die Straße, wo sie versuchen sollten, einen Zeugen aufzutreiben, der jemanden dabei beobachtet hatte, wie er an der Hebebühne hinauf in den sechsten Stock des Edificio Presidente geklettert war.
Inspector Pérez rief an, um zu vermelden, dass das Hausmädchen Dolores Olivia endlich zu sich gekommen war. Ohne einen Rosenkranz hatte sie sich jedoch schlichtweg geweigert, überhaupt etwas zu sagen, und während der gesamten Befragung hatte sie einen Schlüsselanhänger mit der Virgen del Rocío betastet. Sie war fest davon überzeugt, dem absolut Bösen begegnet zu sein, es möglicherweise nun sogar in sich zu tragen. Falcón trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. So ging das immer mit Pérez. Die Polizeischule und elf Dienstjahre hatten seinen Drang nicht mindern können, zu jedem Bericht eine Geschichte zu erzählen. Er brauchte acht Minuten, um mitzuteilen, dass Dolores Olivia die Tür mit fünf Drehungen des Schlüssels geöffnet hatte.
Falcón schnitt Pérez jedes weitere Wort ab und befahl ihm, sobald wie möglich nach Los Remedios zu kommen, um die umliegenden Wohnblocks mit Fotoausdrucken der unidentifizierten Personen von den Bändern der Überwachungskameras abzuklappern. Außerdem musste die Prostituierte identifiziert und gefunden werden. Er legte auf und sah, dass der Médico Forense ihm eine SMS geschickt hatte: Die Obduktion war abgeschlossen, und der schriftliche Bericht wurde gerade abgetippt. Er überlegte kurz, ob er Consuelo Jiménez die Leiche in ihrer ganzen Schrecklichkeit sehen lassen sollte, entschied dann jedoch, dass es vermutlich besser war, die Tatsache der abgeschnittenen Augenlider als Information zu behandeln, die nur die Polizei und der Täter kannten. Er rief den Médico Forense zurück und bat ihn, die Leiche zu säubern und präsentabel herzurichten.
Schließlich verabredete er mit Consuelo Jiménez, sie im Haus ihrer Schwester in San Bernardo abzuholen, ging zu seinem Wagen und rief Fernández an, damit der gemeinsam mit Pérez die Umgebung abklapperte.
Nach dem Vormittag in der dunklen Wohnung war das Licht draußen regelrecht grell und die Luft beinahe warm. Es war immer dasselbe um die Zeit der Semana Santa und der Feria, eine äußerst ambivalente Jahreszeit, weder heiß noch kalt, weder religiös noch weltlich. Falcón stieg ein und warf den Stapel alter Fotos auf den Beifahrersitz. Das Bild von Raúls erster Frau Gumersinda lag zuoberst. Es war ein förmliches Porträt, und sie blickte ernst in die Kamera, doch es waren Consuelo Jiménez’ Worte, die ihm dazu in den Sinn kamen: »Er hat komplett darin versagt, mich zu lieben.« Zwei bizarre Gedanken prallten in seinem Gehirn aufeinander, sodass er mit einem unvermuteten Adrenalinschub den Wagen anließ und, ohne sich umzusehen, auf die Straße scherte. Das Geräusch quietschender Reifen und der gedämpfte Fluch cabrón! drangen an sein Ohr.
Er wendete und fuhr über die Puente del Generalísimo auf die andere Seite des Flusses. Unter ihm verliefen die Gleise zum Hafen, und die Kräne bildeten eine Ehrengarde für die riesige Puente del V Centenario, die sich aus dem Dunst der Stadt über den Fluss erhob. Seltsame Gedanken bedrängten ihn, als er am Parque de María Luisa vorbei Richtung Nordosten fuhr, und er sehnte sich nach der Zigarette, die er in Raúl Jiménez’ Aschenbecher bis auf die Asche hatte verglühen lassen. Inés’ Worte waren ihm wieder eingefallen. Auch er hatte darin versagt, seine Frau zu lieben: »Du hast kein Herz, Javier Falcón«, hatte sie gesagt, und die Worte hatten sich nun irgendwie mit dem Foto von Gumersinda verbunden, einer Frau aus der Zeit seiner leiblichen Mutter Pilar. Und dann war ihm seine Stiefmutter Mercedes eingefallen. All diese Frauen hatten ihm so unendlich viel bedeutet, und nun beschlich ihn plötzlich der Gedanke, ihnen gegenüber irgendwie versagt zu haben – ein Gedanke, der so neu und befremdlich war, dass er ihn verzweifelt zu verdrängen versuchte.
Als er vor einer roten Ampel hielt, zitterten seine Hände am Steuer, und er murmelte: »Das ist Wahnsinn.« So etwas passierte ihm sonst nicht. Er hatte keine wahllosen, unerklärlichen Gedanken. Er war von Natur aus nie ein Tagträumer gewesen, sondern immer ruhig und methodisch. Doch in dem Moment, in
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