Der Blinde von Sevilla
dem er Raúls schreckliches Gesicht gesehen hatte, war ein alles verändernder Prozess in Gang gesetzt worden, der ihn völlig verändert zu haben schien. Sein Verstand wurde von unangenehmen Erinnerungen überflutet, Schweiß brach auf seiner Stirn aus, seine Konzentration war dahin. Er hatte nicht einmal mehr seine Ermittlung im Griff. Hatte die Balkontüren und -fenster in der Jiménez-Wohnung nicht überprüft. Das kleine Einmaleins. Und die Sache mit dem Fernseher, dessen Stecker er herausgerissen hatte, ohne es zu erwähnen. Das war ganz untypisch für ihn.
Falcón fuhr die Calle Balbino Murrón bis zu ihrem Ende hinunter, hielt vor einem Gebäude mit Blick auf das Fußballfeld des Colegio de los Jesuitas und verstaute die Fotos im Handschuhfach. Consuelo Jiménez kam aus dem Haus, bevor er die Tür erreicht hatte. Ein Kind, wahrscheinlich das jüngste, stand winkend am Fenster. Sie winkte zurück, und der Junge wedelte wild mit den Armen. Der Anblick machte Falcón traurig. Er sah sich selbst zurückgelassen im Fenster stehen.
Sie fuhren los und kreuzten auf ihrem Weg in die Innenstadt die Hauptausfallstraßen. Sie blickte stur geradeaus, ohne jenseits der Windschutzscheibe viel wahrzunehmen.
»Haben Sie es den Kindern schon gesagt?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie. »Ich wollte es ihnen nicht sagen und sie dann alleine lassen, weil ich zum Krankenhaus muss.«
»Sie müssen doch ahnen, dass irgendwas nicht stimmt.«
»Sie merken, dass ich nervös bin. Sie wissen nicht, warum sie bei ihrer Tante bleiben müssen. Sie fragen ständig, warum wir nicht in dem Haus in Heliopoiis sind und wann Papa das versprochene Geschenk bringt.«
»Den Hund?«
»Sie können einen ganz schön beeindrucken, Inspector Jefe«, sagte sie. »Sie haben selbst keine Kinder, oder?«
»Nein …«, sagte er und verspürte den Drang, sich zu rechtfertigen.
Stattdessen fuhren sie schweigend weiter nach Norden in Richtung La Macarena.
»Wie läuft die Ermittlung?«, fragte sie höflich distanziert.
»Wir stehen noch ganz am Anfang.«
»Sie haben also nach wie vor nur das übliche Motiv als Ausgangspunkt.«
»Und das wäre?«
»Frau will lieblosen älteren Ehemann loswerden, sein Vermögen erben und sich mit ihrem jüngeren Geliebten davonmachen.«
»Menschen haben schon für weniger gemordet.«
»Ich habe Ihnen dieses Motiv selbst geliefert. Niemand sonst hätte Ihnen erzählen können, dass Raúl Jiménez mich nicht geliebt hat.«
»Was ist mit Basilio Lucena?«
»Er weiß nur, dass Raúl impotent war und ich körperliche Bedürfnisse habe.«
»Wissen Sie, wo er gestern Abend war.«
»Ach ja, natürlich. Die Tat würde natürlich der Liebhaber begehen«, sagte sie. »Sie werden Basilio ja kennen lernen. Hinterher müssen Sie mir erzählen, wozu er Ihrer Meinung nach fähig ist.«
Sie kamen an der Basilica Macarena vorbei und hielten einige Minuten später vor einem strengen grauen Gebäude in der Avenida Sánchez Pizjuan, in dem das Instituto Anatómico Forense untergebracht war. Vor den Türen hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Falcón parkte auf dem Gelände des Krankenhauses, und Consuelo Jiménez setzte eine Sonnenbrille auf. Sobald sie aus dem Wagen stiegen, wurden sie bedrängt, Diktafone wurden auf sie gerichtet, und einzelne Worte erhoben sich wie Geschosssplitter über das Geschrei – »marido« , »asesinado« , »brutalmente«. Falcón fasste sie am Arm und drängte an den Journalisten vorbei durch die Tür, die er hinter sich zuknallte.
Er führte sie einen Flur hinunter zum Büro des Médico Forense, der sie in den Leichenschauraum brachte. Der Beamte zog den Vorhang beiseite, und hinter einer Glasscheibe lag – von oben beleuchtet – Raúl Jiménez, bedeckt von einem Laken, das bis zur Brust zurückgeschlagen worden war. Neben seinem Kopf brannten zwei Kerzen. Seine vom Blut gesäuberten Augen starrten glasig zur Decke. Der verklebte Hinterkopf war gewaschen, die Nase auf wundersame Weise wieder angesetzt worden, und die Einschnitte des Kabels auf beiden Wangen waren verschwunden, sodass es aussah, als sei die alte Wunde an seiner rechten Brust die schlimmste Verletzung, die seinem Körper je zugefügt worden war. Die Ehefrau identifizierte die Leiche, und der Vorhang wurde geschlossen. Falcón bat Consuelo Jiménez, einen Moment zu warten, während er eine kurze Unterredung mit dem Médico Forense hatte; dieser erklärte ihm, dass Raúl Jiménez um drei Uhr morgens an einer Hirnblutung und
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