Der Blinde von Sevilla
über das hinweg, was hätte sein können.«
Javier: »Sieh dich doch an, Papá. Dir ergeht es nicht anders und trotzdem …«
Vater: »Wir sprechen hier nicht von mir.«
Verlegen über seine damalige Grobheit, warf Falcón die Zeitschrift zu Boden und klappte einen Karton auf. So viel Kram. Der Plunder eines ganzen Lebens – zumal des Lebens eines Künstlers, der alles gesammelt hatte, was sich zu einer neuen Idee hätte verdichten können. Er schritt an den Bücherregalen auf der Seite und an der Rückwand des Ateliers entlang und fragte sich, ob er auch die Bücher verbrennen sollte. »Hast du wirklich gewollt, dass ich ein Bücherverbrenner werde? Dass ich alle Bände von der Galerie in den Innenhof werfe, um dort einen Scheiterhaufen aus Worten und Bildern zu errichten? Das kannst du nicht gewollt haben.«
Zur Straße hatte sein Vater Fenster bis zum Boden einbauen lassen, um möglichst viel Tageslicht hereinzulassen. Jedes Einzelne war in ein Stahlgitter gefasst, das man zurückschieben konnte. Der Raum war gesichert wie eine Festung.
Schließlich stand Falcón wieder vor der Wand mit den Arbeiten seines Vaters und schritt durch eine Tür in der Ecke in eine fensterlose, nur von einer nackten Birne beleuchteten Kammer. An einer Wand waren vier Regale mit Fächern eingebaut, in denen gespannte Leinwände und andere Materialien lagerten. Ein Planschrank mit Schubladen bis beinahe zur Decke beherrschte die gegenüberliegende Wand. Die Kammer roch muffig, abgestanden und nach dem langen Winter auch feucht. Er trat an das Regal und zog wahllos ein Blatt heraus. Eine Kohleskizze von einem der Tanger-Akte. Er zog ein weiteres Blatt heraus. Eine Bleistiftzeichnung desselben Aktes. Blatt für Blatt, alles Neuschöpfungen desselben Aktes, Detailskizzen, Perspektivenstudien. Er ging zu den Leinwänden. Auch hier immer wieder der gleiche Akt, mal größer, mal kleiner, aber immer der gleiche Akt. Falcón ging die vier Regale durch und stellte fest, dass sein Vater seine Arbeiten den vier Falcón-Akten zugeordnet hatte. Jedes Regal enthielt hunderte von Zeichnungen, Kohleskizzen und Gemälde in Öl und Acryl.
Auf einmal übermannte ihn eine große Traurigkeit. Dieses Werk, diese Regale an den Wänden einer schwach beleuchteten Kammer, waren alles, was von dem Versuch seines Vaters geblieben war, sein Genie wiederzufinden, es noch einmal richtig auf die Leinwand zu bannen, es noch einmal, und sei es auch nur in einem winzigen Detail, zu besitzen. Und in die Trauer mischte sich ein ziehender Schmerz, als Falcón selbst in dem kärglichen Licht erkannte, dass kein Einziges dieser Werke auch nur annähernd an die Originale heranreichte. Alles war an Ort und Stelle, aber es fehlten das Leben, der Schwung, der Elan, der Fluss. Diese Bilder waren mittelmäßig. Da waren seine abstrakten Landschaften besser. Sogar seine Kuppeln und Fenster, Türen und Pfeiler waren besser als das. Er würde die Sachen verbrennen; er würde sie ohne Zögern verbrennen.
Er stieg auf einen Stuhl und zog die Schubladen aus dem Planschrank. Sie waren schwer, noch mehr Bücher, einige in Leder gebunden, andere in Leinen, Autoren aus den 60er und 70er Jahren, ein paar Klassiker. Er schlug einen Band auf und entdeckte eine persönliche Widmung. Es waren Geschenke von Bewunderern: Adelige, Minister, Theaterdirektoren und Dichter. Eine weitere Kiste enthielt sorgfältig verpacktes Porzellan, eine andere Silbergefäße. Ungerauchte Zigarren, Zigarettenetuis, Holzschnitzereien, Porzellanfiguren. Seine Vater hatte Porzellanfiguren gehasst, und doch besaß er drei Kisten voll davon. Die früheren eingewickelt in Zeitungen aus den 70er Jahren, die späteren in Blasenfolie. Falcón begriff, dass es sich um die Ehrungen handelte, die sein Vater erhalten hatte, die kleinen Geschenke, die man ihm überreichte, wenn er öffentlich aufgetreten war, ein kleiner Ausdruck der Dankbarkeit für sein Genie.
Weitere Erinnerungen an Reisen mit seinem Vater tauchten auf. Er hatte fast nie selbst für ein Essen oder eins der mit Blumen geschmückten Hotelzimmer bezahlen müssen. Wenn sie in einem Privathaus gewohnt hatten, hatten die Bewohner Schalen mit Obst und Blumen hingestellt, um den Besuch des großen Mannes zu würdigen.
»So ist das«, pflegte sein Vater zu sagen. »Größe wird ständig belohnt. Es wäre genau das Gleiche, wenn ich ein Fußballer oder Torero wäre. Es geht um das Genie – sei es im Fuß, im Cape, in der Feder, im Pinsel, es ist ganz egal,
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