Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
und trotzdem … was heißt das schon? Große Künstler malen glanzlose Bilder, geniale Toreros veranstalten furchtbare Gemetzel mit großen Stieren, großartige Schriftsteller schreiben schlechte Bücher, perfekte Fußballer spielen den größten Mist zusammen. Also was ist es … dieses launische Genie?« Er wurde regelrecht wütend, riss die Arme hoch. »Genie ist ein Zwischenraum.«
    »Was?«
    »Ein Spalt, eine winzige Öffnung, durch die du, wenn du gesegnet bist, schauen und das Wesen der Dinge erkennen kannst.«
    »Das verstehe ich nicht.«
    »Natürlich nicht, Javier, denn du bist gesegnet mit Gewöhnlichkeit. Für den Fußballer ist dieser Zwischenraum der Moment, in dem er, ohne sich dessen bewusst zu sein, weiß, wo der Ball sein wird, wie er ihn erreichen kann, wohin er seine Füße setzen soll, wo der Torwart steht und in welchem Augenblick er schießen muss. Berechnungen, die unmöglich erscheinen, sind auf einmal fantastisch einfach. Die Bewegung ist mühelos, das Timing perfekt und die Handlung selbst so … langsam. Ist dir das schon einmal aufgefallen? Ist dir die Stille in diesen Augenblicken aufgefallen? Oder erinnerst du dich nur an den Jubel, wenn der Ball das Netz berührt?«
    Ein weiteres dieser endlosen Gespräche mit seinem Vater. Falcón schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden. Er ging alle Kartons durch, wobei ihm deren strenge Systematik ein wenig unheimlich war. Normalerweise hatte sein Vater in einem großen Dunst und Chaos aus Farbe, Haschisch und Musik gearbeitet, doch in seinem Lagerraum erwies er sich als penibler Erbsenzähler. Und wie zur Bestätigung dieser Tatsache war der nächste Karton, den er öffnete, randvoll mit Geldscheinen gefüllt. Er brauchte es nicht zu zählen, weil ein obenauf liegender Zettel ihn informierte, dass es sich um 85 Millionen Peseten handelte, eine riesige Summe, mit der man problemlos einen kleineren Palast oder ein Luxusapartment hätte kaufen können. Falcón erinnerte sich an Salgados Gerede über Schwarzgeld. Sollte auch das vernichtet werden?
    Der letzte Karton enthielt noch mehr in Leder gebundene Bücher, allerdings ohne Prägung und Titel. Auch der Buchrücken war glatt. Er schlug eines auf und stellte fest, dass die Seiten mit der gestochenen Handschrift seines Vaters gefüllt waren. Eine Zeile sprang ihm ins Auge:
    Ich bin so nah dran.
    Er klappte das Buch zu und schlug es auf der ersten Seite wieder auf. Sevilla 1970 – las er. Tagebücher. Sein Vater hatte Tagebücher geführt, von denen er nichts gewusst hatte. Auf seiner Stirn brach Schweiß aus, den er hastig wegwischte. Auch seine Hände waren feucht. Er wandte sich dem Karton zu, um festzustellen, in welcher Reihenfolge die Bücher sortiert waren, und erkannte, dass er den letzten Band in der Hand hielt. Er blätterte bis zum Dezember 1972 vor, dem letzten Eintrag des Tagebuchs:
    Mir ist inzwischen so langweilig. Ich glaube, ich höre auf.
    Neben den Büchern lag ein Umschlag mit der Aufschrift »An Javier«. Seine Nackenhaare sträubten sich, und seine Finger zitterten, als er den Umschlag aufriss. Über dem Brief stand das Datum des 28. Oktober 1999. Der Tag vor seinem Tod, drei Tage, nachdem er sein Testament gemacht hatte.

    Lieber Javier,
    wenn du diesen Brief liest, ziehst du zumindest in Erwägung, meine Anweisungen und den in meinem Testament vom 25. Oktober 1999 ausdrücklich festgelegten letzten Willen nicht zu befolgen, der absolut unmissverständlich lautet, dass der Inhalt meines Ateliers komplett vernichtet werden soll.
    Aber es gibt ein Schlupfloch für dich und dein logisches Polizistengehirn, Javier. Vielleicht hast du entschieden, dass dir die Möglichkeit offen steht, meinen Besitz zu untersuchen, zu würdigen und zu beschnüffeln, bevor du ihn vernichtest. Du kennst mich besser als irgendein anderes meiner Kinder. Wir haben in einer Vertrautheit miteinander geredet, die ich mit Paco und Manuela nie erreicht habe. Du weißt, was das bedeutet. Du weißt, warum ich es so festgelegt und die Ausführung meines Letzten Willens dir überlassen habe.
    Zunächst einmal könnten weder Paco noch Manuela 85000000 Peseten verbrennen, aber du wirst es tun. Ja. Ich bin sicher, dass du es tun wirst, weil du weißt, woher dieses Geld stammt, und weil du, was noch wichtiger ist, nicht korrumpierbar bist.
    Vielleicht denkst du, dass dir mein absolutes Vertrauen das Recht gibt, diese Tagebücher zu lesen. Ich kann natürlich nichts tun, um dich davon abzuhalten, doch ich

Weitere Kostenlose Bücher