Der Blinde von Sevilla
Alter war. Als 15-Jähriger war ihm 45 alt vorgekommen. Männer dieses Alters trugen alle Hüte und Schnurrbärte. Und er selbst? Zwar trug er keinen Schnurrbart, dafür aber stets Anzug und Krawatte, sogar am Wochenende. Inés hatte versucht, ihn zu leichten Pullovern, Jeans, langärmeligen Strickshirts oder sogar kragenlosen Hemden zu überreden. Undenkbar – dieser Mangel an Struktur. Er mochte ein Hemd mit Krawatte, weil es ihn zusammenhielt und ihm ein Gefühl von Geborgenheit gab. Alles locker Fallende und weit Geschnittene war ihm zuwider. Er mochte einen maßgeschneiderten Anzug. Seinen Schutz.
Doch Schutz wovor?
Er bückte sich und band seine Schuhe fest zu, damit sein Schritt sicher, fest und verlässlich sein würde. Dies war nicht die Zeit, um herumzustolpern, in den gelben Leder-Babuschen herumzuschlurfen, die er sich gekauft hatte, weil sie ihn an seinen Vater erinnerten, der solche Schuhe immer bei der Arbeit getragen hatte – barfuß oder Babuschen, nie etwas anderes.
Es war anstrengend, dieses ständige Wiederauftauchen aus Gedanken und Träumen.
Er trat aus dem Zimmer in die Bogengalerie mit Blick auf den Innenhof. Die Luft, die die Säulen umfächelte, war weich wie ein junges Mädchen, das gekommen war, um ihn zu küssen. Er atmete tief ein und hatte das Gefühl, sein Kopf wäre mit einem Mal vom Duft der Möglichkeit erfüllt. Das stille Wasser im Brunnen auf dem Hof starrte in die Nacht wie eine schwarze Pupille. Ein Schauder erfasste ihn. All diese Häuser beobachteten des Nachts sich selbst, dachte er. Ich bin eingemauert. Die Wände rücken zusammen. Ich muss hier raus. Ich muss aus mir selbst heraus.
Er wollte die Treppe hinuntergehen, wandte sich dann jedoch wieder der Galerie vor dem Atelier seines Vaters zu. Die Schublade mit Schlüsseln war verschwunden. Encarnación. Seltsam, dachte er, dass er sie bei diesem Namen so selten sah. Encarnación – die Verkörperung. Da nahm sie vorgeblich dauerhaft körperliche Gestalt an und erschien ihm doch nie. Er sah lediglich Spuren ihrer Arbeit. Er ging zu dem Tor, weil er sah, dass ein Schlüssel im Schloss steckte; ein zweiter hing an einem Band daneben. Er strich sich mit den Fingerspitzen über die feuchten Handflächen. Früher waren seine Hände immer trocken und kühl gewesen; als Inés noch seine Geliebte gewesen war, brauchte er oft nur mit den Händen über ihren heißen Rücken zu streichen, um sie so zu erregen, dass sie ihren Bauch aufs Bett presste und ihm ihren Po entgegenreckte, damit er sie nahm. Diese kühlen, trockenen Hände auf ihrer Haut. Am Ende ihrer Ehe nannte sie ihn den Fischhändler. »Rühr mich mit diesen Eisklötzen bloß nicht an!«
Er drehte den Schlüssel im Schloss, ein Mal, zwei Mal und noch eine halbe Umdrehung, und der Riegel schnappte zurück. Das Tor schwang geräuschlos auf. Wer hatte die Scharniere geölt? Die imaginäre Encarnación? Sein Herz klopfte, als wüsste es, dass etwas passieren würde. Er zog den Schlüssel aus dem Schloss und drückte das Tor hinter sich zu.
Am Ende der Galerie hatte sein Vater Bretter vor die Bögen genagelt. Falcón blickte die Galerie hinunter und ging dann weiter zu der schweren Mahagonitür, deren massive Füllung sich ihm entgegenwölbte, als wollte sie sagen »Nicht betreten«.
Der zweite Schlüssel passte und ließ sich leicht drehen. Er drückte gegen die schwere Tür und stieß auf ersten Widerstand. Schließlich öffnete sie sich mit dem albernen Quietschen eines Vampirsarges. Er kicherte – nervös wie Leda, als sie den Schwan seine Schwingen ausbreiten sah. Einer der kleinen Scherze seines Vaters über Frauen, die vor seinem überwältigenden Charisma erzitterten. Falcón tastete nach dem Lichtschalter.
Im grellen Licht der Halogenlampe leuchtete eine große leere, mit Farbklecksern übersäte Wand auf – dort hatte sein Vater am Ende gearbeitet. Vier mal fünf Meter Arbeitsfläche, die Reste von vier Leinwänden schienen unter den Farbtropfen und Klecksen zu schweben. Am Ende der Wand hing neben dem Fenster eine fast vollständig schwarze Leinwand, dick verkrustet mit Farbe, als hätte er dort Visionen drohender Verhängnisse verarbeitet. Ansonsten war Rot die dominante Farbe, eine Farbe, die nach den Tanger-Akten nur in wenigen seiner Werke aufgetaucht war. Damals hatten sinnliche Linien über Blöcken marokkanischer Farbtöne die Bilder bestimmt – Tuareg-Blau, Wüsten-Ocker, gebrannte Siena, Terracotta und dann die Rot-Töne, die ganze Palette
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