Der Blinde von Sevilla
und einen Rollkragenpullover an, dessen Kragen er über Mund und Nase gezogen hatte. Er kniete, und sein dunkler Mantel war auf dem Boden kaum zu erkennen.
»Man kann nicht mal ›sein‹ Geschlecht erkennen«, sagte Falcón.
»Ich kann diese Bilder noch ein bisschen aufbereiten«, sagte der Computer-Spezialist. »Es wird mich ein Wochenende kosten, aber ich kann es machen.«
Sie nahmen den Ausdruck und kehrten in Falcóns Büro zurück.
»Und was hat er da gemacht?«, fragte Falcón und setzte sich auf seinen Schreibtisch. »Hat er jemand Bestimmtes gefilmt oder nur die Szenerie im Allgemeinen?«
»Der Abschluss seiner Arbeit«, sagte Ramírez. »Das Schwein tot und begraben. Wäre jedenfalls meine Vermutung.«
»Würde er nur zur persönlichen Befriedigung ein derart großes Risiko eingehen?«
»Ein so großes Risiko war es nicht. Wir filmen schließlich nicht routinemäßig sämtliche Trauergäste auf der Beerdigung eines Opfers«, erwiderte Ramírez.
»Es könnte das Ende dieses Werkes und der Beginn des nächsten sein«, sagte Falcón.
»Haben Sie das nicht schon einmal angedeutet, bevor wir zum Friedhof gefahren sind?«
»Ich kann mich nicht erinnern, irgendwas angedeutet zu haben.«
»Sie sagten etwas über einen normalen Verstand, der gestört werden kann. Ist das nicht dasselbe?«
»Ein Verrückter mit einem bösartigen Motiv«, sagte Falcón. »Oder ein Verrückter ohne Motiv, der einfach nur bösartig ist. Das ist doch genau der Punkt, oder nicht? Wir wissen immer noch nicht genug, um irgendeine Richtung der Ermittlung auszuschließen.«
Er heftete den Ausdruck an die Wand.
»Es ist wie dieses Spiel in den Jugendzeitschriften«, sagte Ramírez und ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Man muss die Identität eines Popstars anhand seiner Nase oder seines Mundes erraten. Meine Kinder denken, ich sollte gut darin sein, weil ich Polizist bin. Sie kapieren offenbar nicht, dass ich gar nicht weiß, wer diese Leute sind. Wer zum Teufel ist Ricky Martin?«
»Der Sohn von Dean?«, fragte Falcón ahnungslos.
»Und wer ist Dean Martin, verdammt noch mal?«
Falcón brach in hysterisches Gelächter aus. Vielleicht lag es an den unruhigen Nächten mit ihren seltsamen Träumen, jedenfalls lachte er stumm und wie irre. Er wischte sich die Tränen aus den Augen und wand sich auf seinem Stuhl, während sich Welle um Welle Bahn brach. Ramírez musterte ihn wie ein Anwalt einen unzuverlässigen Mandanten, der in den Zeugenstand treten soll.
Hilflos gegenüber dem Ausbruch seines Vorgesetzten, rief Ramírez schließlich die Männer im Außeneinsatz an und hörte sich ihre Berichte an. Nichts. Dann ging er etwas essen. Falcón riss sich zusammen und machte sich auf den Weg nach Hause, selbst verblüfft über seinen Ausbruch. Er aß, was Encarnación auf dem Herd für ihn bereit gestellt hatte, und ging in der Hoffnung, ein Stündchen schlafen zu können, ins Bett. Um neun Uhr abends wachte er in seinem stockfinsteren Schlafzimmer auf, abrupt aus dem Schlaf gerissen, als habe ihn jemand in den Magen geboxt. Er fühlte sich erschöpft, seine Zunge war mit etwas Ekligem belegt, seine Glieder fühlten sich steif an und die Gelenke knackten.
Also stellte er sich unter die Dusche und ließ das Wasser das Durcheinander aus seinem Körper heraustrommeln. Im Ankleidezimmer zog er sich eine graue Hose und ein weißes Hemd an. Als er in den Spiegel sah, konnte er seinen eigenen Anblick nicht leiden. Er hasste Weiß, konnte diese … Nicht-Farbe nicht ertragen, er riss sich das Hemd wieder vom Leib und schleuderte es quer durch das Zimmer. Dann trat er näher vor den Spiegel, musterte sein Gesicht. Das Alter. Wurde man innerlich genauso runzelig wie äußerlich? Bildeten sich kleine Falten im Gehirn, sodass man zu Bett ging und weiße Hemden mochte und sie dann beim Aufwachen plötzlich nicht mehr ausstehen konnte?
Er entschied sich für ein grünes Hemd.
Als er das zerwühlte dunkelblaue Laken auf dem Bett sah, kam ihm unvermittelt eine Erinnerung. Inés hatte immer weiße Laken gewollt, doch er konnte in Weiß nicht schlafen. Da war sie wieder, diese Abneigung gegen Weiß. Sie hatten sich auf hellblau geeinigt. Falcón sah sich manchmal gern als Exzentriker, so wie einige der englischen Sammler, die sein Vater ihm beschrieben hatte. Doch das war wohl eine gefällige Lüge, eingestreut von seinem Ego. Er überlegte, wie Inés ihn gesehen haben musste – ein alter Mann mit Marotten, nur dass 45 eigentlich noch gar kein
Weitere Kostenlose Bücher