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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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sollte dich trotzdem warnen, dass das, was du darin findest, auch destruktiv sein kann. Dafür übernehme ich keine Verantwortung. Es ist deine Entscheidung.
    Die Tagebücher sind unvollständig, und eine zusammenhängende Lektüre wird einige Detektivarbeit erfordern. Du bist perfekt geeignet für diese Aufgabe. Aber nimm sie nicht leichtfertig auf dich, Javier, vor allem wenn du stark, glücklich und in deinem jetzigen Leben gefestigt bist. Es ist eine kleine Geschichte des Schmerzes, die zu deiner werden wird. Die einzige Möglichkeit, das zu vermeiden, ist, gar nicht erst anzufangen.
    In Liebe Dein Vater
    Francisco Falcón

13
    Samstag, 14. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Falcón schob den Brief in den Umschlag und stopfte ihn zurück in den Karton. Hastig knipste er das Licht in den beiden Räumen aus und spürte, wie die Dunkelheit das Werk seines Vaters hungrig wieder verschluckte. Er verschloss das Tor und verließ das Haus, weil er in Ruhe über die jüngsten Entwicklungen nachdenken wollte.
    Der Park vor dem Museo de Bellas Artes begann, sich mit jungen Leuten zu füllen, die Joints rauchten und aus Literflaschen Cruzcampo tranken. Mit elf Uhr abends war es noch zu früh, aber in ein paar Stunden würde zwischen den dunklen Bäumen der Lärm einer großen Party unter freiem Himmel widerhallen. Er ging weiter stadtauswärts, fort von jedem Ort, an dem man ihn erkennen könnte.
    Seine Schritte fanden einen wiegenden Rhythmus, der kein Nachdenken erforderte, während die Worte aus dem Brief seines Vaters durch seinen Kopf ratterten wie ein Güterzug über endlose Schwellen. Er wusste, dass er der Versuchung, die Tagebücher zu lesen, nicht widerstehen konnte.
    Nach einer halben Stunde fand er sich auf der Calle Jesús del Gran Poder wieder – ein hochtrabender Name für eine wenig anziehende Straße. Er nahm den Durchgang zur Alameda. Auf dem Platz, wo sonntagmorgens ein Flohmarkt stattfand, parkten Autos; zwischen den Bäumen standen die Mädchen. Aus den Kneipen und Bars auf der anderen Seite dröhnte Musik. Eins der Mädchen kam, einen Stretch-Minirock über ihrem Hintern zurechtzupfend, auf ihn zu und fragte ihn, was er suchte. Im gelblichen Licht wirkte ihr Gesicht schwarz-weiß, ihre Brüste quollen aus dem tiefen Ausschnitt ihres Netz-Tops hervor, das ihren festen, runden Bauch nackt ließ. Ihre Lippen glänzten schwarz, und ihre Zunge schnellte hervor wie ein Meerestier unter einem Felsen. Er war fasziniert. Sie machte ihm einige Vorschläge, die zu Falcóns Überraschung ihre Wirkung taten. Er hätte tatsächlich gerne Sex gehabt. Der Gedanke, ihn zu kaufen, war ihm nie gekommen. Seiner Aufmerksamkeit einmal sicher, wandte sie nun alle Tricks an. Sein Verstand wurde überflutet von verstörenden Ideen, von denen er nicht gewusst hatte, dass er ihrer überhaupt fähig war. Er war abgestoßen, doch gleichzeitig auch angezogen von der aufregenden Lebendigkeit des Ganzen und musste sich regelrecht losreißen.
    »Ich bin Polizist«, sagte er steif. »Ich suche Eloisa Gómez.« Schmollend wies sie mit dem Kopf auf eine Gruppe, die auf dem Platz stand. Er verließ den Schatten der Bäume, irritiert, weil er sich selbst nicht mehr trauen konnte. Unberechenbarkeit sickerte in sein Wesen. Er musste sich daran erinnern, dass er ein Guter war im Dienste des Guten, denn auf dem Schnappschuss, den er soeben von der dunklen Seite seiner Seele geschaut hatte, wimmelte es von Leben. Als er über den unebenen Boden der Alameda ging, kam ihm der verrückte Gedanke, dass er sich vor sich selbst fürchten könnte, vor dem, was in ihm schlummerte, ohne dass er es wusste. Und war das nicht genau das, was der Mörder mit Raúl Jiménez gemacht hatte? Er hatte ihm gezeigt, wovor er sich jeden Tag seines Lebens gefürchtet hatte.
    Falcón erreichte Frauen, die gegenüber der Calle Vulcano standen. Die Gruppe teilte sich wortlos und wartete, dass er etwas sagte, weil sie wussten, dass er kein Freier war. Er fragte nach Eloisa Gómez. Ein kleines, dickes Mädchen mit steifem, schwarz gefärbtem Haar und einem verquollenen Gesicht erklärte, dass sie Eloisa seit dem Anruf eines Freiers in der vergangenen Nacht nicht mehr gesehen hätte.
    »Ist es ungewöhnlich, dass sie nicht hierher zurückkommt?«, fragte er, und die Mädchen zuckten die Achseln.
    »Sie müssen ein Bulle sein«, sagte eine von ihnen. »Gehören Sie zu dem cabrón , der gestern Abend hier war?«
    »Ich bin bei der Mordkommission«, sagte

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