Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
Vom Netzwerk:
von Blutrot von kapillarem Karmesin über das Zinnoberrot der Venen bis zum tiefen Amarant der Arterien. Die Fachwelt war sich einig, dass das Geheimnis der Bilder in den Rot-Tönen lag, dem Fluss des Lebens. Doch seit Tanger hatte er kein Rot mehr verwendet, auch nicht für die Detailansichten Sevillas. Diese abstrakten Landschaften waren grün und grau, braun und schwarz und stets in ein rätselhaftes Licht aus einer unbekannten Quelle getaucht. Ein Licht, das der Kritiker der ABC »numinos« genannt hatte und El País »Disney«. »Man kann die Menschen nicht sehen lehren«, hatte sein Vater gesagt. »Sie sehen nur, was sie sehen wollen. Ihr Verstand funkt ihnen ständig dazwischen. Das solltest du in deinem Beruf wissen, Javier. Zeugen, die alles ganz deutlich gesehen haben, sind oft, wie sich im Kreuzverhör erweist, praktisch gar nicht dabei gewesen. Von einem Blinden würdest du mehr erfahren. Und warum? Weil die Menschen zutiefst an die Wahrheit ihrer eigenen Sicht glauben. Wenn man seinen eigenen Augen nicht mehr trauen kann, wessen dann?«
    Während er sich an diese Worte erinnerte, war Falcón mitten in der Bewegung erstarrt. Seine Gedanken drehten sich um den entscheidenden Punkt, eine Einsicht, die es ihm ermöglichen würde, in den Kopf von Raúl Jiménez’ Mörder zu blicken. Der Mörder, der sein Opfer zwang zu sehen, es zwang, auch gegen den sich wehrenden Verstand die unerträgliche Wahrheit zu erkennen. Doch die entscheidende Erkenntnis kam nicht, und Falcón erwachte aus seiner Starre wie ein Patient aus einer Vollnarkose.
    Er wanderte um die eingekerbten Tische mit Gläsern und Tonkrügen, voller hart getrockneter Pinsel und rissiger, ausgetrockneter Farbe. Unter den Tischen standen neben Kartons auch Stapel von Büchern, Katalogen, Zeitschriften, obskuren Kunstvierteljahrschriften, Papier, Leinwandrollen und Sperrholzbrettern. Er würde einen halben Tag brauchen, nur um den ganzen Kram nach unten zu tragen, von einer Durchsicht ganz zu schweigen. Aber wozu auch? Er sollte es nicht durchsehen. Die Sachen sollten weggeschafft und verbrannt werden. Nicht nur weggeworfen, sondern bis zur Unkenntlichkeit zerstört.
    Falcón fuhr sich wieder und wieder durchs Haar, wütend über das, was zu tun er sich anschickte; er wusste ganz genau, dass er mit der Absicht gekommen war, die Wünsche seines Vaters zu missachten. Er war diesem Moment seit dem Tod seines Vaters ausgewichen, weil er sich erst weit genug vom Ende dieser Ära entfernen musste, um eine eigene zu beginnen. Seine eigene Ära? Hatten gewöhnliche Menschen wie er überhaupt eine eigene Ära?
    Er bückte sich und zog ein einzelnes Magazin aus einem Stapel, einen New Yorker. Sein Vater war ein großer Cartoon-Fan gewesen, je surrealer, desto besser. Eine seiner Lieblingszeichnungen war das Bild einer Schachfigur neben einem Kaktus in der Wüste. Darunter die Textzeile »Damenbauer nach Albuquerque, New Mexico«. Die strahlende Genialität der Bedeutungslosigkeit – das war für ihn die perfekte Lebenshaltung gewesen, vielleicht weil sein eigenes Leben nach dem Verlust seines strahlenden Genies der Bedeutungslosigkeit so nahe gekommen war.
    Erinnerungen drängelten sich in Falcóns Kopf und buhlten um Aufmerksamkeit.
    Ein Streit über Hemingway und darüber, warum er sich 1961 erschossen hatte, dem Jahr, in dem Falcóns Mutter gestorben war. Ein Mann, der so viel erreicht und doch Selbstmord begangen hatte, weil er es nicht ertrug, dass sein Genie ihn verlassen hatte. Falcón war 16 gewesen, als sie darüber diskutiert hatten.
    Javier: »Warum konnte er sich nicht einfach zur Ruhe setzen? Der Typ war mehr als 60 Jahre alt. Warum hat er seinen Bleistift nicht einfach an den Nagel gehängt, sich in der kubanischen Sonne in einen Liegestuhl gesetzt und ein paar Mojitos getrunken?«
    Vater: »Weil er sich sicher war, dass er das, was er verloren hatte, wiederfinden konnte und wiederfinden sollte.«
    Javier: »Nun, allein das hätte ihn hinreichend beschäftigen sollen. Schatzsuche … das ist doch ein Spiel, das jeder gern spielt.«
    Vater: »Es ist kein Spiel , Javier. Das ist kein Spiel.«
    Javier: »Er hatte seinen Platz unter den Großen der Weltliteratur sicher. Er hatte den Nobelpreis bekommen. Mit Der alte Mann und das Meer war sein Werk vollendet. Es gab nichts mehr zu sagen. Warum soll man es weiter versuchen, wenn es …«
    Vater: »Weil er es einmal gehabt und verloren hatte. Es ist, als würde man ein Kind verlieren … man kommt nie

Weitere Kostenlose Bücher