Der Blinde von Sevilla
sagte Falcón. »Es muss passiert sein, als er 16 war. Daraufhin hat er sein Elternhaus verlassen.«
Sein Bruder und seine Schwester schüttelten den Kopf.
»Aber sag uns bloß Bescheid, wenn du auf einen seiner Akte stößt, der zufällig hinter eine Kiste gerutscht ist oder so. Ich meine, das wäre doch sonst nicht gerecht, oder?«
»Dort lagern hunderte von Akten. Such dir einen aus.«
»Hunderte?«
»Hunderte von jedem.«
»Ich meine keine Kopien«, sagte Manuela.
»Ich auch nicht … es sind alles ›Originale‹, von ihm selbst gemalt.«
»Das musst du uns erklären, Kleiner.«
»Er hat sie immer wieder gemalt, in dem Bemühen, sein … ich weiß es nicht, das Geheimnis der Originale wiederzufinden. Die Bilder sind alle wertlos, deswegen wollte er auch, dass sie zerstört werden.«
»Wenn Papá sie gemalt hat, können sie nicht wertlos sein«, sagte Manuela.
»Sie sind nicht mal signiert.«
»Das kriegen wir schon gedeichselt«, sagte Manuela. »Wie hieß noch der schreckliche Mensch, den er benutzt hat …? Irgendein Junkie. Er hat in der Nähe der Alameda gewohnt.«
Die beiden Brüder sahen sie an. Falcón dachte an die Worte aus dem Brief seines Vaters. Manuela starrte wütend zurück.
»He! Que cabrones sois «, sagte sie mit einem aufgesetzt dreckigen andalusischen Akzent, und alle drei lachten.
Falcón machte sich gar nicht mehr die Mühe, seine nächste Frage zu stellen: Warum sie sich alle Falcón nannten – nach dem Mädchennamen seiner Großmutter väterlicherseits und nicht González, wie der Familienname eigentlich lauten müsste. Auch das würden wohl die Tagebücher offenbaren. Paco und Manuela wussten gar nichts.
Manuela fuhr zurück nach Sevilla, während Falcón an die Beifahrertür gedrückt auf seinem Sitz saß und spürte, wie die Spannung sich in ihm aufbaute und in seine Eingeweide sickerte, je näher die unsichtbare Stadt kam. Der orangefarbene Widerschein am Himmel leuchtete ihnen den Weg, und er zog sich in seinen Kopf zurück, die engen Straßen seines Denkens, die finsteren Sackgassen unvollendeter Gedanken und wimmelnden Avenidas schwammiger Erinnerungen.
Zu Hause in der Calle Bailén ging er direkt in die Küche und trank Wasser aus einer Flasche im Kühlschrank, als es klingelte. Es war halb zehn Uhr abends. Niemand kam ihn normalerweise um diese Zeit besuchen.
Er öffnete die Haustür. Etwa zwei Meter davor stand Consuelo Jiménez und sah aus, als wollte sie es sich gerade anders überlegen.
»Ich habe gerade mein Gepäck im Hotel Colón abgeholt«, sagte sie. »Und da ist mir eingefallen, dass das Haus ganz in der Nähe ist, also hab ich mir gedacht, ich guck mal, ob Sie da sind.«
Ein erstaunlicher Zufall, wo er doch gerade erst heimgekommen war.
Er ließ sie hinein. Ihr Haar war anders, weniger ordentlich als bei ihrer letzten Begegnung, und ihre Kleidung bestand aus einer schwarzen Leinenjacke, einem schwarzen Rock und roten Samtpantoletten mit kleinen Absätzen, die ihrem Witwen-Look alles Trauernde nahmen. Sie ging in den Innenhof voran, und er folgte ihren nackten Fersen und Beinen, deren Muskeln sich bei jedem Schritt unter der Haut abzeichneten.
»Sie kennen das Haus«, sagte Falcón.
»Ich habe immer nur den Innenhof und den Raum gesehen, in dem er seine Bilder gezeigt hat«, sagte sie. »Sieht aus, als hätten Sie alles unverändert gelassen.«
»Sogar die Gemälde hängen noch so wie an dem Tag, an dem er sie zum letzten Mal gezeigt hat«, erwiderte Falcón. »Encarnación staubt sie regelmäßig ab. Ich sollte sie abhängen … Ordnung schaffen.«
»Ich bin überrascht, dass Ihre Frau das nicht alles längst getan hat.«
»Sie hat es versucht«, sagte Falcón, »aber ich war damals noch nicht ganz so weit, seine Präsenz in dem Haus zu tilgen.«
»Er hatte in der Tat eine beeindruckende Präsenz.«
»Ja, manche Leute fanden ihn Furcht einflößend, obwohl ich nicht gedacht hätte, dass das auch auf Sie zutrifft, Señora Jiménez.«
»Vielleicht war auch Ihre Frau ein wenig zu eingeschüchtert … oder überwältigt. Eine Frau schafft sich gern ihr eigenes Heim, wissen Sie, und fühlt sich übergangen, wenn …«
»Möchten Sie sich umsehen?«, fragte er und ging über den Hof, weil er nicht wollte, dass sie weiter in seinem Privatleben herumbohrte.
Ihre Absätze klackerten verführerisch auf den Marmorfliesen um den Brunnen. Falcón öffnete die Glastür, machte das Licht in dem Zimmer an, winkte sie herein und bemerkte sofort das
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