Der Blinde von Sevilla
Vaters. Anschließend ging er ins Atelier hinauf und sortierte die Tagebücher chronologisch, wobei ihm auffiel, dass die Qualität der Bände immer ärmlicher wurde, je weiter er zurückging – das Papier wurde dünner, die Seiten waren nicht ordentlich gebunden, und die Leimung war im Laufe der Jahre brüchig geworden, sodass die Blätter lose herumflatterten. Auch die Handschrift veränderte sich. Die ersten Bände waren kaum als Tagebücher seines Vaters zu identifizieren. Die Buchstaben drängten sich dicht an dicht, die Abstände waren ungleichmäßig, die Zeilen kippten zum Ende hin weg, und die Akzente und Tilden sahen aus, als hätte man sie in einem Becher durchgeschüttelt und dann wahllos über dem Papier ausgegossen. Die Schrift wirkte unsicher, beinahe ein wenig wirr. Später wurde sie ruhiger, doch erst mit der Rückkehr nach Spanien Anfang der 60er Jahre verwandelte sie sich in die Schönschrift, die Falcón von seinem Vater kannte.
Und genau zu dieser Zeit tat sich auch eine Lücke auf. Ein Tagebuch endete im Sommer 1959 in Tanger, das nächste begann im Mai 1965 in Sevilla. In den Jahren dazwischen war alles passiert. Seine Mutter und seine Stiefmutter waren gestorben. Sein Vater hatte die Falcón-Akte gemalt, war berühmt geworden und hatte Marokko verlassen. Es war der alles entscheidende Band. Würden seine detektivischen Fähigkeiten ausreichen, die Lücke zu schließen?
Es war kurz vor eins, und er wurde zum Mittagessen in der Finca seines Bruders Paco in Las Cortecillas erwartet, die über eine Stunde Fahrt entfernt lag. Wenn er jetzt mit der Lektüre der Tagebücher begann, würde er praktisch sofort wieder aufhören müssen. Er beschloss, den ersten Eintrag zu lesen und es dabei zu belassen – ein amuse-gueule , ein pincho vor dem gran plato.
19. März 1932, Dar Riffen, Marokko
Heute bin ich 17 geworden, und Oscar hat mir ein leeres Buch geschenkt, das ich füllen soll. Seit dem »Zwischenfall«, wie ich es mittlerweile nenne, ist beinahe ein Jahr vergangen, und ich fange an zu glauben, dass ich vergesse, wer ich einmal war, wenn ich die Dinge nicht aufschreibe. Aber nach zehn Monaten Ausbildung und brutaler Disziplin in der Fremdenlegion bin ich mir bereits unsicher. Um die Tage in der Kaserne herumzubringen, ist es das Beste, wenn man nicht denkt. Um die Tage im Gelände herumzubringen, ist es auch das Beste, wenn man nicht denkt. Und im Gefecht kann ich nicht denken, weil alles zu schnell passiert. Ich träume nur einen Traum, über den ich nicht nachdenken will. Also denke ich nicht. Als ich Oscar das erkläre, sagt er: »Du denkst nicht, also bist du nicht.« Was immer das bedeuten soll. Er erklärt mir, dass dieses Buch das ändern wird. Ich hoffe, es ist nicht zu spät. Das Leben vor dem »Zwischenfall« hat bereits seine klaren Konturen verloren. Alles kommt mir jetzt so unwichtig vor. Meine Erziehung bedeutet nichts bis auf die Tatsache, dass ich lesen und schreiben kann, was man von vielen tontos , den Dummköpfen in meiner Kompanie, nicht behaupten kann. Meine alten Freundschaften bedeuten immer weniger. Meine Familie hat mich vergessen und ist für mich gestorben. Wer bin ich? Mein Name ist Francisco Luis González Falcón. An unserem ersten Tag in der Legion hat uns unser Hauptmann erklärt, wir wären novios de la muerte. Er hatte Recht. Ich bin ein Bräutigam des Todes, aber nicht so, wie er es gemeint hat.
Seine Schwester Manuela rief ihn an, um ihn daran zu erinnern, sie abzuholen. Sie begann zu klagen, wie hart Paco sie für ihr Mittagessen arbeiten lassen würde, und Javier bekundete sein Mitgefühl, ohne richtig zuzuhören.
Bei strahlendem Sonnenschein fuhren sie stadtauswärts auf der Straße nach Mérida. Als sie die sanft geschwungene Ebene mit ihren sich im Wind wiegenden Gräsern erreichten, entspannte Javier sich zusehends. Der Druck der Stadt, die Intensität ihrer engen Gassen, das Gedrängel, die Touristenhorden, seine immer komplexer werdende Ermittlung, all das lag hinter ihm. Er hatte Paco nie um seine Liebe zum einfachen Leben, die Weite und die über die Weiden streichenden Bullen beneidet, doch seit Raúl Jiménez’ Ermordung faszinierte die Stadt ihn nicht mehr, sondern machte ihm plötzlich Angst. Er war keineswegs zum ersten Mal auf einen nächtlichen Umzug mit einer kerzenbeschienenen Jungfrau gestoßen. Einmal war er sogar auf dem Heimweg von einem Tatort in eine Prozession geraten und vollkommen unbewegt geblieben. Er hatte sich nie mit der
Weitere Kostenlose Bücher