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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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Gesichtern. Durch die Reihen barfüßiger Männer rannte er weg von der schwebenden Jungfrau.
    Die Menschenmasse lichtete sich, sodass er die Straßensperre auf der anderen Seite schließlich überwand, doch erst in der Calle Cabeza del Rey Don Pedro verlangsamte er seine Schritte, beruhigte sich allmählich und blieb dann plötzlich wie angewurzelt stehen: Mitten auf der Straße stand mutterseelenallein seine Exfrau Inés. Sie blickte zu dem Gebäude zurück, das sie gerade verlassen hatte, und lachte; aus ganzem Herzen. Durch die Tür der Bar Abades fiel ein Lichtstreifen auf ihr Gesicht, und Falcón wusste, dass sie nicht betrunken war. Sie lachte, weil sie glücklich war.
    Die Tür des Lokals ging auf, und eine Gruppe kam heraus. Inés hakte sich bei einem der Männer unter, und sie gingen die Straße hinunter, weg von ihm. Sie trug hohe Absätze, und wie jedes Mal bewunderte er die atemberaubende Sicherheit ihrer Schritte auf dem holperigen Pflaster. Seine eigenen Füße in Bewegung zu setzen erwies sich als ungleich problematischer, denn der Augenblick hatte eine klaffende schwarze Schlucht in ihm aufgerissen. Auf der einen Seite lag sein früheres, glücklicheres, verheiratetes Leben, auf der anderen sein momentanes, einsames, immer düsterer werdendes Ich. Und dazwischen? Der Riss, die Kluft, der bodenlose Abgrund all der schrecklichen Träume vom Fallen, gegen die nur das Aufwachen in einer noch gnadenloseren Wirklichkeit half.
    Er folgte ihr, lauschte ihrer Fröhlichkeit. Witze über Richter und Verteidiger wurden erzählt. Erleichtert registrierte er, dass es sich um Kollegen handelte, doch jedes perlende Lachen von Inés bohrte sich mit der Wucht eines Stierhornes in ihn. Ihr Glück war beinahe unerträglich angesichts seiner eigenen neuen Qualen.
    Auf der Avenida de la Constitución winkte die Gruppe Taxis heran, und er beobachtete aus dem Schatten, wer mit wem fuhr. Vier Personen stiegen in ein Taxi. Falcón starrte auf ihren Knöchel mit dem dreieckigen Lederriemen und sah ihn hinter der Taxitür verschwinden. Dann blickte er den roten Rücklichtern des Wagens nach wie ein Schiffbrüchiger.
    Er ging zum Fluss hinunter, wobei er sich auf den Hauptstraßen hielt und die engen Gassen von El Arenal mit ihren sorglos entspannten Touristen mied. Auf der Puente San Telmo überquerte er den schwarzen, glänzenden Fluss und blieb in der Mitte stehen, weil ihm die Leuchtreklamen auf den Hochhäusern an der Plaza de Cuba ins Auge fielen – Tito Pepe, Airtel, Cruscampo, Fino San Taricio: Sherry, Telefone und Bier. Das war das Spanien von heute – alle Bedürfnisse abgedeckt.
    Der Fluss unter ihm plätscherte träge dahin, und Raúl Jiménez’ erste Frau fiel ihm ein. Die Qual des Nichtwissens war mehr gewesen, als eine Mutter ertragen konnte. Er fragte sich, ob sie es von dieser Stelle aus getan hatte, und erinnerte sich an Consuelo Jiménez’ Worte: dass sie eines Tages ans Ufer gegangen war und sich weggeworfen hatte. Er stellte sich vor, wie sie flussabwärts trieb und das Wasser an ihrem Gesicht, an Augen- und Mundwinkeln leckte, bis sich die Wellen in der Mitte trafen und sie von der Dunkelheit umfangen wurde, nach der sie sich so gesehnt hatte.
    Sein Handy klingelte, und der banale Ton, der ihn aus seinen morbiden Gedanken riss, war ihm willkommen. Er hielt das Telefon ans Ohr, hörte das ätherische Zischen und wusste, dass er es war.
    »Diga« , sagte er leise.
    Keine Antwort.
    Er wartete, weil er den Bann dieses Mal nicht durch überflüssige Worte brechen wollte.
    »Sie denken, dies wäre Ihre Ermittlung, Inspector Jefe, aber Sie sollten wissen, dass ich eine Geschichte zu erzählen habe, und die werden Sie mich, ob Sie wollen oder nicht, erzählen lassen. Hasta luego. «

14
    Sonntag, 15. April 2001, Falcóns Haus,
    Calle Bailén, Sevilla

    Beim Aufwachen raste sein Herz immer noch wie wild in seiner Brust. Falcón überprüfte seinen Puls – er maß 90, viel zu hoch. Er schwang die Beine aus dem Bett und war schon erschöpft. Sein Gesicht brannte, sein Haar war verschwitzt, als wäre er die ganze Nacht gerannt. Er war erst nach vier ins Bett gekommen, weil er nicht nach Hause hatte gehen wollen.
    Er strampelte eine Stunde auf seinem Hometrainer und redete sich hinterher ein, es ginge ihm besser. Dann duschte er und kleidete sich an. Aus der Zurückgezogenheit des Hauses wirkte die Welt draußen wie ausgestorben. Er trank Kaffee und aß Toast mit Knoblauch und Olivenöl, das Frühstück seines

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