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Der Blinde von Sevilla

Der Blinde von Sevilla

Titel: Der Blinde von Sevilla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Wilson
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wahnhaften Marienverehrung der Stadt identifiziert. Doch nun hatte ihn eine Puppe auf einem Podest – und mehr war es ja im Grunde nicht – vollkommen erschüttert, geradezu in Panik versetzt. Das Bedürfnis, alldem zu entfliehen, war rein instinktiv gewesen, rationale Überlegungen hatten keine Rolle gespielt. Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück, als sie durch Pajanosas, eins der berühmten weißen Dörfer, fuhren.
    Direkt nach der Ankunft auf der Finca zog Manuela ihr rotes Leinenkostüm aus und einen Overall an. Paco hängte sich ein Gewehr über die Schulter und packte drei Pfeile mit Beruhigungsserum ein. Zu dritt stiegen sie in einen Landrover und machten sich auf die Suche nach einem von Pacos retintos , der von einem Kampf mit einem anderen Stier an der Flanke verwundet war.
    Sie fanden das Tier unter einer Steineiche. Es war vollkommen ausgewachsen und bereits für die diesjährige Feria verkauft. Paco lud einen Pfeil und traf den Stier in der Hüfte. Langsam trottete das Tier zwischen den Bäumen weiter. Sie folgten ihm im Wagen, bis der Stier sich, verwirrt durch die fehlende Kraft in seinen Hinterbeinen, auf einer sonnigen Lichtung ins Gras sinken ließ. Als sie ausstiegen und näher kamen, riss er mit letzter Kraft den Kopf hoch. Für einen Moment fixierte er sie mit stierem Blick, und Falcón schien es, als wisse er, was im Kopf des Tieres vor sich ging. Der Stier hatte keine Angst, sondern empfand nur ein Gefühl ungeheurer Stärke, das sich langsam der Wirkung des Beruhigungsmittels ergab.
    Er ließ seinen Kopf zurück ins Gras sinken, und Manuela konnte die Wunde säubern, mit einigen Stichen nähen und dem Tier ein Antibiotikum spritzen, bevor sie eine Blutprobe nahm. Paco redete ununterbrochen auf den Stier ein, hielt eins seiner Hörner fest gepackt und sah sich nach anderen Stieren um, die möglicherweise angreifen könnten. Falcón tätschelte das Hinterteil des Stiers und wünschte sich unvermittelt jenes Selbstbewusstsein, das das Tier ihm kurz zuvor gezeigt hatte. Ihre Komplexität machte Menschen so zerbrechlich. Wenn wir uns nur so ausschließlich auf eine Sache konzentrieren könnten wie dieser Stier, uns unserer Macht so bewusst sein könnten, anstatt uns immer nur um unsere erbärmliche Bedürftigkeit kümmern zu müssen.
    Manuela spritzte dem Tier ein Stimulans, und sie zogen sich in den Land Rover zurück. Der Kopf des Stieres schnellte hoch, und sofort begann er sich zu bewegen, weil sein Instinkt ihm sagte, dass er auf dem Boden verwundbar war. Er stand auf und zwang sich loszutrotten. Seine Hinterbeine machten einen unsicheren Hüpfer, und dann war er zwischen den Bäumen verschwunden.
    »Fantastischer Stier«, sagte Paco. »Er wird doch zur Feria wieder fit sein, oder, Manuela?«
    »Die Verletzung wird noch nicht ganz ausgeheilt sein, aber er wird ihnen zeigen, was er draufhat«, sagte sie.
    »Sieh ihn dir an, Javier. Am Montag, dem 23. April, wird er in La Maestranza auftreten, und niemand, nicht einmal José Tomás, wird ihn bezwingen«, sagte Paco. »Hat Pepe schon irgendwas gehört?«
    »Nichts.«
    »Er wird seine Chance bekommen. Irgendjemand wird bis zur Feria ausfallen, das ist eine Frage der Statistik.«
    Sie aßen Lammbraten, den Paco in einem restaurierten Steinofen zubereitet hatte. Zum Essen waren sie mit den Schwiegereltern, Onkeln, Tanten, Pacos Frau und den vier Kindern eine ganz ansehnliche Versammlung. Im Schoß der Familie vergaß Falcón sich und trank mehr Rotwein als üblich. Danach zogen sich alle zurück. Manuela musste Falcón schließlich wecken, der so tief und reglos schlief wie eine gefallene Statue.
    Es wurde schon dunkel, als sie zum Wagen gingen, doch Falcón fühlte sich immer noch erschöpft. Paco hatte einen Arm um seine Schulter gelegt und verabschiedete sich umständlich.
    »Wusste einer von euch beiden, dass Papá in der Legion war?«, fragte Falcón.
    »In welcher Legion?«, fragte Paco.
    »Der spanischen Fremdenlegion, El Tercio de Extranjeros. In den 30er Jahren in Marokko.«
    »Das wusste ich nicht«, sagte Paco.
    »Ha!«, sagte Manuela. »Du hast angefangen, das Atelier auszuräumen. Ich habe mich schon gefragt, wann du dich endlich dazu durchringst, Kleiner.«
    »Ich lese nur einige Tagebücher, die er hinterlassen hat.«
    »Er hat nie über die Zeit geredet … über den Bürgerkrieg«, sagte Paco. »Ich erinnere mich nicht, dass er je über sein Leben vor der Zeit in Tanger gesprochen hat.«
    »Er erwähnt einen Zwischenfall …«,

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