Der Blinde von Sevilla
der Vorstellung, zu erblinden – ja, das ist genau das richtige Wort: besessen. Er war sicher, dass es ihm passieren würde.«
»Das wusste ich nicht.«
»Mein Vater hat versucht, ihn davon zu befreien, indem er ihm sagte, wenn er nicht aufpasste, würde er hysterisch erblinden. Die Idee fand Francisco noch furchtbarer«, sagte Dr. Fernando. »Aber wir sind hier, um über dich zu reden, Javier. Meiner Ansicht nach leidest du unter klassischen Stresssymptomen.«
»Ich habe keinen Stress. Ich mache den Job jetzt 20 Jahre und hatte noch nie Stress.«
»Du bist 45.«
»Danke, das weiß ich noch.«
»Das ist der Zeitpunkt, an dem der Körper beginnt, seine eigene Schwäche zu erkennen. Der Körper und der Geist. Der psychische Druck löst körperliche Symptome aus. Ich sehe es ständig.«
»Sogar hier in Sevilla?«
»Vielleicht gerade im maravillosa Sevilla. Es ist ein ziemlicher Stress, immer fröhlich zu sein … einfach weil es von einem erwartet wird. Bloß weil wir in der schönsten Stadt Spaniens leben, sind wir nicht immun gegen das moderne Leben. Wir sagen uns, dass wir glücklich sein sollten … wir haben keine Ausrede. Wir sind umgeben von Menschen, die anscheinend glücklich sind, Menschen, die in die Hände klatschen und auf der Straße tanzen, Menschen, die aus schierer Lebensfreude singen … meinst du etwa, die leiden nicht? Glaubst du, sie wären irgendwie vom Kampf um das menschliche Sein befreit – Tod, Krankheit, verlorene Liebe, Armut, Verbrechen und alles andere? Wir sind alle halb verrückt.«
Falcón fragte sich, on ihn sein Arzt mit diesen Worten darüber hinwegtrösten wollte, dass er den Verstand verlor. »Ich hab schon angefangen zu glauben, ich wäre völlig irre.«
»Du stehst unter einem ganz speziellen Druck. Du musst dich ständig mit dem punktuellen Kollaps unserer Zivilisation auseinander setzen, wenn die Zustände so unerträglich geworden sind, dass ein Draht gerissen ist. Du betrachtest die Konsequenzen. Das ist kein leichter Job. Vielleicht solltest du mit jemandem darüber reden … jemandem, der deine Arbeit versteht.«
»Mit dem Polizeipsychologen?«
»Dafür ist er ja da.«
»Binnen einer Stunde wüsste jeder, dass Falcón kurz vor einem Nervenzusammenbruch steht.«
»Sind solche Termine nicht vertraulich?«
»Sie sickern trotzdem durch. Es ist, als würdest du in einer Kaserne oder der Polizeischule wohnen. Alle wissen schon vor dir, dass du dich von deiner Freundin trennst.«
»Du sprichst aus schmerzhafter Erfahrung, Javier.«
»In meinem Fall war es sogar noch schlimmer, weil Inés eine fiscal ist, außerdem nicht zu übersehen und kein bisschen schüchtern … aber vielleicht sollten wir nicht von Inés anfangen, Dr. Fernando.«
»Zum Polizeipsychologen willst du also nicht gehen?«
»Etwas Privateres wäre mir lieber. Es macht mir nichts aus, dafür zu bezahlen. Du hast schon Recht, vielleicht hilft es mir, darüber zu reden.«
»Private Termine bekommt man nicht so leicht. Außerdem gibt es in der Lehre von der Psyche die verschiedensten Ansätze. Einige Leute betrachten das Ganze als ausschließlich klinischen Zustand, ein chemisches Ungleichgewicht, das mittels Medikamenten wieder ins Lot gebracht werden kann. Andere benutzen Medikamente oder sogar Drogen in Verbindung mit einem theoretischen Ansatz, der unter anderem auf Jung oder Freud basiert.«
»Du wirst mich beraten müssen.«
»Ich kann dir nur sagen, der ist ein guter Psychologe, der arbeitet ausschließlich psychopharmakologisch, dieser ist ein strenger Freudianer. Vielleicht gefällt dir ihre Herangehensweise nicht. Du weißt schon: ›Was hat meine Beziehung zu meiner caca als Kind mit meinen Problemen als Erwachsener zu tun?‹ Deswegen müssen sie nicht schlecht in ihrem Job sein.«
»Du denkst immer noch, dass ich zum Polizeipsychologen gehen sollte?«
»Nun, der hätte zumindest den Vorteil, verfügbar zu sein.«
»Als Nächstes wirst du mir erzählen, dass in der ciudad de alegría, in maravillosa Sevilla kein einziger Psychologe einen freien Termin hat? Somos todos chiflados! Wir sind doch alle verrückt!«
»Jedenfalls leiden wir alle«, sagte Dr. Fernando. »Aber die Spanier, nicht nur die Sevillaner, erheben sich über ihre Probleme … la fiesta. Wir reden, wir singen, wir tanzen, wir trinken, wir lachen und feiern Abend für Abend ein Fest. Dies ist unsere Art, mit dem Schmerz umzugehen. Vielleicht solltest du öfter ausgehen. Weniger arbeiten. Mehr unter Menschen
Weitere Kostenlose Bücher