Der Blinde von Sevilla
Kassette lief zu Ende.
»Was soll das heißen? ›Sehschule?‹«, fragte er. »Und was, wenn es das Video ist, das lief, als Raúl Jiménez mit Eloisa Gómez zusammen war?«
»Das war die letzte von sechs Episoden. Wir sollen uns vier und sechs ansehen.«
»Das haben wir getan.«
»Es hat also nichts mit der Tatsache zu tun, dass es in der Mordnacht gelaufen ist.«
»Sehschule?«, murmelte Ramírez.
»Er will uns etwas lehren«, sagte Falcón. »Er sieht Dinge, die sonst niemand sieht.«
»Mich lehrt er gar nichts«, sagte Ramírez. »Ich kenn den ganzen Mist auswendig.«
»Vielleicht ist es ja gerade das. Was sieht man, wenn man sich einen Pornofilm anschaut?«
»Man sieht, wie sie es miteinander treiben.«
»Deswegen heißen Pornos in Amerika ›skin flicks‹ , weil man nur darauf sieht. Auf die Haut, die Oberfläche, die Action.«
»Was gibt es denn sonst noch zu sehen?«
»Vielleicht will er uns sagen, dass es mehr zu sehen gibt, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Es geht nicht bloß um Genitalien und Penetration. Wir vergessen, dass die Darsteller echte Menschen mit Gesichtern und einem Leben sind«, sagte Falcón. »Lassen Sie uns die letzte Episode noch einmal ansehen und diesmal nur auf die Gesichter achten.«
Ramírez spulte die Kassette zurück. Falcón drehte die Lautstärke auf null, und sie traten einen Schritt näher an den Monitor.
»Haben Sie die Kleidung der Leute gesehen?«, fragte Falcón.
»Der Film muss mindestens 20 Jahre alt sein«, sagte Ramírez. »Schauen Sie sich diese Hemdkragen an – daran kann ich mich noch erinnern.«
Falcón konzentrierte sich auf die Gesichter, ließ den Blick von einem zum nächsten wandern, betrachtete Augen und Münder und fragte sich, was Menschen dazu trieb, so etwas zu tun. Reichte das Geld, um jede Moral, jede Unschuld und Intimität über Bord zu werfen? Sein Blick schweifte von einem leeren Augenpaar zu zusammengebissenen Zähnen, von einem schlaffen und leblosen Gesicht zu einer verächtlich gewölbten Oberlippe, und das träge Gewicht der kleinen, sich dem Betrachter darbietenden Tragödie ließ ihn schaudern. Kannten diese Menschen einander überhaupt? Vielleicht hatten sie sich erst am Morgen getroffen, und am Nachmittag …
Eines der Mädchen hatte dunkle lockige Haare und blickte nie in die Kamera. Entweder sie starrte stur geradeaus oder auf die Platte des Tisches, auf dem sie sich abstützte. Sie hatte eine Hand zu einer entschlossenen Faust geballt. Falcón dachte, dass der Film durchaus dokumentarische Qualitäten gehabt hätte, wenn die Kamera sich auf die Gesichter konzentriert und eine Stimme aus dem Off das Leben der Mitwirkenden erzählt hätte. Hatten diese Menschen in der Welt draußen Partner? War es möglich, dass man mit sieben oder acht Fremden Sex hatte und dann zum Abendessen mit seinem Freund oder seiner Freundin nach Hause ging?
Eine Welle der Traurigkeit brach sich in seiner Brust.
»Haben Sie irgendetwas gesehen?«, fragte Ramírez.
»Nichts von Bedeutung«, erwiderte Falcón. »Ich weiß nicht, wonach wir suchen.«
»Macht sich dieser Typ über uns lustig?«
»Dies ist sein Spiel, das wir mitspielen, weil wir jedes Mal etwas über ihn erfahren. Lassen Sie uns Episode vier noch mal ansehen.«
Ramírez spulte die Kassette zurück und startete das Video. Eine Party in einer Wohnung. Es klingelte. Die Kamera folgte einem Mädchen in engen Shorts und einem rückenfreien Top den Flur hinunter. Sie öffnete die Tür und ließ zwei Männer und zwei Frauen herein. Ramírez hielt seinen dicken Finger auf den Bildschirm.
»Schauen Sie sich die mal an«, sagte er.
Es war das Mädchen mit den dunklen lockigen Haaren und der geballten Faust, das nie in die Kamera blickte.
»Das ist eine Perücke«, sagte Ramírez.
Die Kamera folgte der Gruppe den Flur hinunter zu der Party, die mittlerweile unerklärlicherweise außer Kontrolle geraten war, alle Gäste waren nackt und munter bei der Sache. Und anstatt schreiend das Weite zu suchen, gesellten sich die vier Neuankömmlinge fröhlich dazu.
»Da ist sie wieder«, sagte Ramírez.
Diesmal saß sie mit nacktem Oberkörper auf einem Sofa und betrachtete die ausgebeulte Hose eines vor ihr stehenden Mannes. In der folgenden Nahaufnahme sah man das Mädchen in den Hosenschlitz des Mannes greifen.
»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Ramírez.
»Unglaublich.«
»Aber sie ist es doch, oder?«, fragte Ramírez mit beinahe spürbarer Befriedigung. »Sie ist jünger und
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