Der Blinde von Sevilla
felsenschwer zu.
Trotzdem konnte er nicht einschlafen.
Gespenstische Bilder tauchten auf. Horrorvisagen, eigentlich unvorstellbar, und doch, sie waren da, in seinem Kopf. Jedes Mal wenn sein Verstand in die Dunkelheit wegkippte, kamen sie und rissen ihn wieder hoch. Er wälzte sich zwischen den Laken und presste die Fäuste auf die Augen. Falcón kamen die Tränen. Madré mía , was war das? Sein ganzer Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Tränenblind warf er das Laken beiseite und taumelte aus dem Zimmer. Auf der Galerie versuchte er, sich zusammenzureißen und sich mit ein paar Schritten an der frischen Luft wieder zu beruhigen. Schließlich packte er das Geländer und blickte in den Innenhof hinunter. Er sah die schwarze Pupille in der Mitte des Brunnens zu sich hoch starren und dachte, dass er einfach über das Geländer auf die Marmorfliesen springen und seinen Schädel mit einem letzten misstönenden Schrei zerplatzen lassen könnte, um endlich Ruhe und Frieden zu finden.
Die Idee war allzu verlockend. Er stieß sich von dem Geländer ab und stolperte die Treppe hinunter ins Arbeitszimmer, wo er den Barschrank öffnete, in dem sich die Flaschen aneinander reihten. Whisky, das Lieblingsgetränk seines Vaters. Er entkorkte die erstbeste Flasche und setzte sie gierig an. Es schmeckte wie feuchte Holzkohle und rann durch den Körper wie feurig glimmende Glut.
In einem großen Spiegel hatte er Gelegenheit, seine aktuelle Erscheinung zu begutachten – nackt und zitternd, mit eingeschrumpelten Genitalien und tränenüberströmtem Gesicht, die Flasche mit beiden Händen umklammernd, als würde sie ihn ans sichere Ufer tragen. Er leerte die Flasche, taumelte rückwärts und glitt in eine glänzende Dunkelheit, als würde er zu einer neuen schwarzen Straße ausgewalzt.
So kam er auch zu sich – wie von einer Dampfwalze überrollt, alle Gelenke ausgekugelt, sämtliche Knochen zermalmt, das Gesicht verzerrt. Er lag in einer Urinlache und zitterte vor Kälte. Draußen dämmerte es. Seine Beine brannten. Er wischte den Boden, ging nach oben und brach unter der Dusche zusammen, stellte fest, dass er noch immer betrunken war.
Tropfnass schleppte er sich schließlich ins Bett und zog die Laken über sich. Er schlief ein und träumte den Fisch-Traum. Es war beinahe wundervoll, durch das blaugrüne Wasser zu schießen, doch schon bald begann wieder das schreckliche Zerren an seinen Eingeweiden, das sein Innerstes nach außen riss.
Dienstag, 17. April, Falcóns Haus,
Calle Bailén, Sevilla
Das brutale Licht knallte auf seinen Kopf. Stahlspitzen blitzten in seinem Schädel auf und schlugen Funken. Der ekstatische Schmerz des Katers ließ ihn stöhnen.
Eineinhalb Stunden später nahm er frisch geduscht, rasiert und gekämmt auf dem Stuhl vor seinem Hausarzt Platz, zögerlich wie ein Mann mit riesigen Hämorrhoiden.
»Javier …«, sagte sein Arzt und verstummte ratlos.
»Ich weiß, Dr. Fernando, ich weiß«, sagte Falcón.
Dr. Fernando Valera war der Sohn des Arztes seines Vaters und zehn Jahre älter als Falcón, obwohl sich der Altersunterschied in der vergangenen Woche verringert zu haben schien. Die beiden Männer kannten sich gut, beide waren aficionados de los toros.
»Ich habe dich am Freitag in einer Menschenmenge an der Estación de Santa Justa gesehen«, sagte Dr. Fernando. »Da sahst du noch ganz normal aus. Was ist passiert?«
Die sanfte Stimme des Arztes ließ Falcón sentimental werden, und er musste die Tränen ob des albernen Gedankens zurückdrängen, dass er endlich einen Zufluchtsort gefunden hatte, wo jemand sich um ihn sorgte. Er zählte dem Arzt seine körperlichen Symptome auf – die Angstzustände, die Panik, das Herzrasen, die Schlaflosigkeit. Der Arzt stellte bohrende Fragen nach seiner Arbeit, sodass irgendwann auch der Fall Raúl Jiménez zur Sprache kam, über den der Doktor in der Zeitung gelesen hatte. Falcón gab zu, dass er seit dem Anblick von Jiménez’ starrem Gesicht eine chemische Veränderung in sich spürte.
»Ich darf dir die Einzelheiten nicht erzählen, aber es hatte mit den Augen des Mannes zu tun.«
»Ah ja, was die Augen angeht, bist du empfindlich … genau wie dein Vater.«
»Tatsächlich? Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«
»Für einen Künstler ist es vermutlich ganz natürlich, sich Sorgen um seine Augen zu machen, aber in den letzten zehn Jahren wurde es bei deinem Vater zu einer regelrechten Zwangsvorstellung: Er war besessen von
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