Der Blinde von Sevilla
kommen.«
»Ich möchte trotzdem, dass du jemanden für mich findest, mit dem ich reden kann«, sagte Falcón und spürte wieder das Gewicht auf seinen Schultern.
Dr. Valera nickte und schrieb ihm ein Rezept für ein mildes angstlösendes Medikament namens Orfidal sowie für ein leichtes Schlafmittel auf.
»Eins ist allerdings sicher«, sagte er, als er Javier das Rezept gab. »Alkohol wird keins deiner Probleme lösen.«
Falcón löste das Rezept auf der Avenida de República Argentinia ein und schluckte gleich eine Orfidal. Im Büro wartete Ramírez mit einem an Inspector Jefe Javier Falcón adressierten Packen mit Poststempel aus Madrid auf ihn.
»Wir haben es durchleuchten lassen«, sagte Ramírez. »Es ist eine Videokassette.«
»Bringen Sie es in die Spurensicherung und lassen Sie es untersuchen.«
»Da ist noch etwas, was interessant sein könnte. Ich habe Fernández gestern zu Mudanzas Triana geschickt, um Baena bei den Befragungen zu helfen. Er hat sich mit dem Vorarbeiter angefreundet. Dabei ist unter anderem herausgekommen, dass Raúl Jiménez Mudanzas Triana engagiert hat, weil sie auch schon seine vorherigen Umzüge gemacht haben. Von seinen beiden letzten Umzügen lagern sie auch noch Sachen für ihn ein.«
»Seine Frau hat gesagt, er wäre Mitte der 80er Jahre in das Edificio Presidente gezogen.«
»Aus einem Haus in El Porvenir.«
»Und davor hat er an der Plaza de Cuba gewohnt.«
»Bis 1967.«
»Als seine erste Frau gestorben ist.«
»Als sie bei Mudanzas Triana seinen Namen in den Computer gegeben haben, haben sie festgestellt, dass er noch Sachen eingelagert hat. Sie haben ihn gefragt, ob sie sie zu seinem neuen Haus bringen sollten, was er mit Nachdruck verneint hat. Darauf haben sie ihm angeboten, die Sachen zu entsorgen, was er ebenfalls abgelehnt hat.«
Ramírez zog mit dem Päckchen ab. Falcóns Hand zitterte über dem Telefon. Er lehnte sich zurück und versuchte, die Qualität der neuen Information einzuschätzen. Das Orfidal wirkte. Seine Gedanken waren ruhig und konzentriert, wenngleich möglicherweise mit einem leicht paranoiden Einschlag – die Annahme, dass Ramírez versuchte, seine Aufmerksamkeit mit verlockenden, aber nutzlosen Details in eine andere Richtung zu lenken. Er hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte entweder einen Durchsuchungsbefehl beantragen, wofür er allerdings beweisen müsste, dass 36 Jahre zurückliegende Ereignisse eine Bedeutung für den aktuellen Fall hatten. Oder er konnte Consuelo Jiménez um Erlaubnis bitten, die eingelagerten Sachen einzusehen, obwohl die ihn bereits bei den Unterlagen des Bauausschusses hatte auflaufen lassen.
Das Klingeln des Telefons ließ ihn zusammenzucken. Juez Calderón bat um eine Unterredung, weil er soeben einen höchst ungewöhnlichen Besuch vom Magistrado Juez Decano de Sevilla Afredo Spinola gehabt hatte. Sie verabredeten sich vor dem Mittagessen im Edificio de los Juzgados.
Ramírez kehrte mit der »sauberen« Videokassette von der Policía Científica zurück. Der Kassette beigelegt war eine gedruckte Karte mit der Aufschrift »SEHSCHULE – LEKTION NR. 1, (s. 4 + 6).« Der Titel des Videos lautete Cara o Culo I.
»War das nicht der Titel auf der leeren Hülle in Raúl Jiménez’ Wohnung?«, fragte Ramírez.
»Der Mörder muss es mitgenommen haben«, sagte Falcón. »Und was soll das heißen – ›Sehschule – Lektion eins‹?«
Sie gingen in das Vernehmungszimmer, in dem die Videoanlage vom Vortag noch aufgebaut war, und Ramírez schob die Kassette in den Rekorder. Blecherne Musik hob an, billig gestaltete Titelgrafiken flimmerten über den Schirm. Es folgte eine Reihe von Episoden, jeweils fünf bis zehn Minuten lang, in denen sich ganz normale Situationen wie eine Party, ein Abendessen in einem Restaurant oder ein Grillabend am Pool zu höchst unwahrscheinlichen Gruppensex-Orgien entwickelten. Falcón war sofort endlos gelangweilt. Die Musik und die falsche Ekstase irritierten ihn, und seine Handflächen wurden wieder feucht. Die Wirkung des Orfidal ließ nach. Ramírez beugte sich vor und spielte mit seinem Ring. Er kommentierte das Geschehen auf dem Bildschirm und pfiff hin und wieder leise. Erst während der letzten Episode erwachte Falcón aus seiner Benommenheit, weil er dachte, dass sie auch gelaufen war, als Raúl Jiménez mit Eloisa Gómez zusammen war.
»Ich weiß nicht, woran Sie das erkennen wollen«, meinte Ramírez.
»Es sind einfach Konturen auf dem Bildschirm.«
Ramírez grinste. Die
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