Der Blinde von Sevilla
dunkel an. Er mochte es nicht, wenn man seine Manipulationen gegen ihn drehte, außerdem wollte er die Demütigung von Consuelo Jiménez nicht verpassen. Falcón rief sie an, und sie willigte ein, ihn vor Beginn des Mittagsgeschäfts in den Restaurants zu empfangen.
Auf der Toilette nahm Falcón eine weitere Orfidal. Er war erstaunt, wie gut die erste gewirkt hatte, und erkannte die Versuchung, den Rest seines Lebens auf Tabletten zu verbringen. Er fuhr durch eine seltsam gedämpft wirkende Stadt und dachte, dass sein Arzt vielleicht Recht hatte und das Ganze bloß Stress war. Alle Menschen lebten in einem Dauerzustand milder Angst. Und weil es keine weltbewegenden Ereignisse mehr gab, die das Leben definierten, konzentrierte man sich auf die Details des Alltags und stürzte sich in Arbeit und Aktivismus, um die Angst zu unterdrücken, die sich bei relativer Ruhe bemerkbar machte. Das war es, dachte er, er würde noch ein paar Wochen lang diese Pillen nehmen, den Fall lösen und dann Urlaub machen.
Auf der Rückseite des Edificio de los Juzgados waren einige Parkplätze frei. Er stellte seinen Wagen ab und ging zu Fuß durch die Jardines de Murillo zum barrio Santa Cruz. Als ihm die Worte seines Arztes wieder einfielen … die schönste Stadt Spaniens … , verlangsamte er seine Schritte und sah sich um, als wäre er zum ersten Mal hier. Die Luft wirkte frisch und sauber, und der Himmel, der sich über den großen Palmen wölbte, war tatsächlich himmelblau. Die andalusische Sonne stand hoch über den grünen Platanen, deren Blätter ein bewegliches Muster aus Licht und Schatten auf das glatte Kopfsteinpflaster warfen. Nach den heftigen Regenschauern wucherten purpurrote Bougainvillen an weißen und ockerfarbenen Fassaden. Leuchtend rote Geranien wiegten die Köpfe zwischen den schmiedeeisernen Geländern der Balkone, und in den stillen Straßen hing der Duft von Kaffee und frisch gebackenem Brot. Schließlich öffnete sich das höhlenartige Gassengewirr auf einen warmen, offenen Platz, wo die Steine uralter Kirchen stumm und golden in der Sonne schimmerten.
Als er unter den hohen Platanen auf der Plaza Alfalfa entlangschlenderte, bedauerte er den Grund seines Besuches – der Schmerz und die Peinlichkeit schienen nicht zu dem strahlend schönen Tag zu passen. Die Sekretärin führte ihn in Consuelo Jiménez’ Büro. Sie saß sehr aufrecht am Schreibtisch, die Hände flach auf das Leder der Schreibunterlage gelegt, die wattierten Schultern gestrafft. Falcón ließ sich, den Bauch immer noch voller fröhlicher Schmetterlinge, auf einen Stuhl sinken. Diese Pillen …
Er überreichte ihr das Video in einem durchsichtigen Plastikbeutel der Spurensicherung. Sie drehte es um, las den Titel und verzog das Gesicht. Er erklärte ihr, dass er die Kassette zusammen mit einer Karte, die auf eine Lektion der Sehschule verwies, am Morgen per Post erhalten hätte.
»Das war einer der Pornofilme meines Mannes, nicht wahr?«
»Er lief, als der Mörder Ihren Mann mit der Prostituierten in seinem Arbeitszimmer gefilmt hat. Die beiliegende Karte hat uns aufgefordert, uns die Episoden vier und sechs ganz genau anzusehen.«
»Sehr gut, Inspector Jefe, und was ist passiert?«
»Sie sind völlig ahnungslos, was den Inhalt dieses Videos betrifft?«
»Ich interessiere mich nicht für Pornografie. Ich verabscheue sie.«
»Der Kleidung der Schauspieler und Schauspielerinnen nach zu schließen, ist der Film schätzungsweise zwanzig Jahre alt.«
» Kleidung in einem Porno … das ist mal was Neues.«
»Nur am Anfang.«
»Nun kommen Sie, Inspector Jefe, wenn es eine neue Entwicklung gibt, dann lassen Sie hören, und wir können darüber reden.«
»In den beiden Episoden, die wir uns auf Anweisung der beiliegenden Karte genauer ansehen sollten, spielen Sie als junge Frau mit, Señora Jiménez.«
Das nachfolgende Schweigen war lang genug, um eine neue Eiszeit einzuleiten.
»Was glauben Sie, warum …?«, setzte Falcón an.
»Wovon reden Sie überhaupt, Inspector Jefe?«
Der bösartige Unterton in ihrer Stimme durchlöcherte sein Selbstbewusstsein, sodass ihm plötzlich der bedrohliche Gedanke kam, sie könnten sich geirrt haben. Ramírez war eine Fehleinschätzung unterlaufen, und sie war es gar nicht gewesen. Die Büromöbel schienen auf ihn zuzustürzen, als er sich dem peinlichsten Moment seiner Laufbahn stellte.
»Ich habe mich gefragt«, sagte er wieder ruhiger, »warum uns jemand diesen Film schicken sollte.«
»Wie kommen
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