Der Blutfluch: Roman (German Edition)
Bein loslassen, es hätte den sicheren Tod des Kindes bedeutet. Rote Kreise tanzten ihr vor Augen, ihr Herz raste vor Angst. Tief unten toste der Fluss.
Die Mauerkante presste sich ihr hart in den Magen, ihre bloßen Sohlen rutschten auf den Steinen. Das Entsetzen raubte ihr den Atem, und erst nach und nach gewann ein anderes Gefühl die Oberhand. Erleichterung. Adeliza mochte das eigene Leben geringgeschätzt haben, aber sie hatte ihre Tochter vor ihrem Sturz im letzten Augenblick freigegeben. Das Mädchen zappelte erbärmlich, und Leena beugte sich noch tiefer, um es sicher zu halten.
»Tu es nicht!«
Nach einer kurzen Verschnaufpause wurde Leena so unerwartet rücklings an den Oberarmen gepackt, dass sie vor Schreck das Kind fast wieder verloren hätte. Wütend trat sie mit dem Fuß nach hinten und barg das zappelnde, eiskalte Neugeborene schützend an ihrer Brust. Erst dann drehte sie sich um: Tibo!
Sie maß ihn mit einem Blick purer Verachtung, weil sie ihm ansah, was er dachte. Aber sie war weder so verzweifelt noch so schwach wie Adeliza, die nur einen einzigen Ausweg gesehen hatte: den Tod.
»Was soll ich nicht tun? Denkst du, ich stürze mich in den Fluss wie dieses arme, irregeleitete Mädchen? Nehme mir deinetwegen das Leben? Das bist du nicht wert, Tibo. Danitza kann dich behalten. Ich will dich nicht mehr. Geh zu deiner Dirne und mach ihr die Söhne, die du so dringend haben willst.«
Wie es seine Art war, überhörte er die Anklage einfach und deutete auf das Kind.
»Und was soll das hier sein?«
Seine Stimme verriet sowohl Zorn wie ein schlechtes Gewissen und eine Spur von Unsicherheit. Seine Zornesausbrüche waren ihr vertraut, die beiden anderen Gefühlsregungen waren ihr fremd an ihm. Gemeinhin strotzte Tibo vor Selbstsicherheit und Kraft, Skrupel oder Schwäche schienen ihm fern. Was hatte ihn durcheinandergebracht? Die Sorge um eine Frau, die er ohnehin betrog? Kaum vorstellbar. Leena bot ihm unerschrocken die Stirn.
»Es ist mein Kind.« Sie hüllte das Neugeborene schützend in die Falten ihres Rockes.
Die Bewegung sollte Tibo zeigen, wie sehr sie sich als Mutter dieses Kindes fühlte. In ihrem Volk konnte man die Brüste entblößen, ohne Anstoß zu erregen, aber keine Tamara enthüllte ohne äußerste Not ihre Schenkel.
»Kinder fallen nicht vom Himmel. Und du kannst keine zur Welt bringen«, erwiderte Tibo.
Es war gefühllos, sie daran zu erinnern, aber Tibo war ein Freund klarer Worte.
»Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erhielt er zur Antwort.
»Du bist wütend, ich weiß. Ich war ein Trottel, mich auf Danitza einzulassen. Sie ist eine Schlange. Verzeih mir. Ich will es wiedergutmachen. Du musst nicht einer anderen Frau das Kind nehmen, damit ich zu dir zurückkomme. Wir werden auch ohne eigene Kinder glücklich …«
»Sei still.«
Leena war es endlich gelungen, den Herzschlag des Mädchens zu ertasten. Eilig, wie der eines verletzten Vogels, drängte er sie zu handeln. Das Schicksal schenkte ihr eine Tochter, aber wenn sie sich nicht sputete, würde sie sie noch in dieser Nacht wieder verlieren.
»Das Kleine braucht Wärme, Milch und Liebe. Dieses Kind wird mir niemand nehmen. Im Notfall werde ich gegen Tod und Stammesgesetz zugleich kämpfen, das schwöre ich dir, Tibo. Wenn dir wirklich an meiner Vergebung liegt, wirst du mir helfen und ihm ein guter Vater sein.«
»Und was ist mit der Mutter? Womit hast du sie überredet, dir das Kind zu überlassen? Hast du ihr Schicksal aus den Handlinien gelesen und sie in Ängste versetzt, bis sie nicht mehr wusste, worauf sie sich einlässt? Wenn du deine Talente auf solche Weise einsetzt, musst du dich vor dem Stammesrat verantworten. Unsere Regeln erlauben keinen Missbrauch, das solltest du wissen.«
Leena schnaubte verächtlich. Sie kannte die Gesetze des Stammes besser als Tibo. Von Generation zu Generation mündlich überliefert, bildeten sie die Basis ihres Lebens. Von Mutter zu Tochter wurden sie weitergegeben.
»Die Mutter dieses Würmchens hat sich vor meinen Augen in den Fluss gestürzt. Gott hat ein Wunder bewirkt und mir erlaubt, das Kleine zu retten, ehe sie es mit in den Tod reißen konnte. Wenn der Fluss ihre Leiche freigibt, werden alle denken, dass der Strom ihr Kind auf Nimmerwiedersehen verschlungen hat. Niemand wird je davon erfahren, dass es als unsere Tochter weiterlebt.«
Tibo beugte sich über das Geländer und sah in die Tiefe, wo der Fluss um die Brückenpfeiler tobte. Wer dort
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