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Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Titel: Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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werfe er aus einer ungewöhnlichen Perspektive einen Blick in einen Himmel voller Engel.
    Einen Himmel, der ihm bis ans Ende der Ewigkeit verschlossen sein würde.

    ENDE DER EPISODE

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Nr. 35 -

Der Buhmann

1
    Sandra ließ sich Zeit für das Besteigen der Treppe.
    Hinter ihr am unteren Ende hing die Uhr, ein übergroßes, kaltes Ding, wie man es auf Bahnhöfen antraf. Sie nahm ein Drittel der Wand ein, als ob die Schüler ein Haufen von Kurzsichtigen wären. Wenn man zu lange davor verweilte, schien die Uhr einen anzuziehen, in das Weiß der Zwischenräume zwischen den schwarzen, balkenförmigen Zeigern hinein. Diese Zeiger schnappten in kurzen, knackenden Bewegungen im Kreis herum, und Sandra kam immer der Vergleich mit Hamstern im Laufrad in den Kopf. Okay, Hamster waren schneller, aber diese Zeiger brauchten sich auch nicht zu verstecken. Jedenfalls waren sie schnell genug, um an so manchem Morgen schon acht Uhr anzuzeigen, wenn das Mädchen vorüberging.
    Wieder einmal zu spät. Und trotzdem hatte es die Elfjährige nicht eilig.
    Jetzt nicht mehr.
    Sandra war verschwitzt, ihr Körper dampfte unter dem roten Pulli. Bis zur Schule war sie gerannt, den ganzen Weg durch den Ort, hatte Zebrastreifen überquert, ohne nach links und rechts zu sehen, und einige Passanten mit der auf ihrem kleinen Rücken hin und her hüpfenden Schultasche angerempelt, doch jetzt, wo das Laufrad der tickenden Zeigertiere acht Uhr zeigte, hatte sie Zeit.
    Sie stellte sich vor, dass das, was im ersten Stock lauerte, irgendwann weggehen würde. Dass es nach dem Klingeln nur zehn Minuten lang auf sie lauerte und sich dann enttäuscht nach Hause trollte, in eine Höhle vielleicht, oder was immer dieses Zuhause sein mochte. Andererseits würde sie beim Rektor vorsprechen müssen, wenn sie mehr als zehn Minuten zu spät kam – so lautete die Regel. Ein Dilemma.
    Wie in Zeitlupe hob sie den rechten Fuß auf die nächste Stufe, zog dann den linken nach, wartete einen Moment und begann das Ritual von neuem. Wer sie sah, konnte auf die Idee kommen, sie sei verletzt oder hätte eine Gehbehinderung. Nein, sie war vollkommen gesund, körperlich zumindest. Was ihren Geisteszustand anbelangte, schienen einige Klassenkameraden (und vielleicht auch einige Lehrer) ernsthafte Bedenken zu haben. Schließlich sah sie dieses … Ding , und die anderen behaupteten, es nicht zu sehen. Für Sandra war das ganz logisch, denn das Ding hatte es auf sie abgesehen, auf sie allein, und dass die anderen es nicht wahrnahmen, zeigte nur, dass es geschickt genug war, sich nicht erwischen zu lassen, nicht mehr und nicht weniger.
    Für eine Treppe mit zweiundzwanzig Stufen länger als zehn Minuten zu brauchen, war schwierig. Sandra arbeitete daran, aber sie hatte noch kein Patentrezept gefunden. Zumal sie das Ding schon sehen würde, wenn sie die sechste Stufe von oben erreicht hatte.
    Es war soweit. Schon lange war die Decke des Korridors zu erkennen, nun kam die Wand am hinteren Ende in ihr Blickfeld.
    Sie wusste, dass es da war. Es war immer da, wenn der Flur leer war.
    Die Elfjährige zuckte zurück. In dem Moment, in dem sie es wahrnahm, überfiel sie stets der Drang, sich herumzuwerfen, die Treppe nach unten zu jagen und aus dem Schulgebäude zu fliehen. „Wenn du so etwas tust“, hatte ihr Vater gesagt, „werden wir dich eine Anstalt stecken müssen.“ Bei diesen Worten hatte er sehr traurig ausgesehen, und Sandra begriff, dass er ihr damit nicht drohen wollte, sondern dass er selbst entsetzliche Angst davor hatte, dass eben dies geschehen würde. Sandras Vater war so ein Mann. Voller Unsicherheit. Bestimmt träumte er nachts davon, dass Leute in kastenförmigen Wagen eines Abends im Parkverbot vor dem Haus parken, seine einzige Tochter aus dem Haus zerren und in die winzigen, fensterlosen Räume einer Psychiatrie sperren würden. Sandra selbst hatte so etwas noch nie geträumt. Ihre Albträume drehten sich um das Ding im leeren Flur und darum, was es mit ihr anstellen würde, wenn es sie kriegte. Die Aussicht auf ein langes Leben in fensterlosen Räumen war verglichen damit eine vergnügliche Vorstellung.
    Auch heute überwand sie den Impuls zu fliehen und nahm stattdessen die nächste Stufe. Hinter einem Schleier aus Angst saß – für sie selbst kaum verständlich – ein Quäntchen Neugier. Vielleicht war es auch Mut, und sie hielt es nur für Neugier.
    Das Geschöpf versuchte, wie ein Bär auszusehen.
    Natürlich wusste Sandra, dass es kein

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