Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann
sie auf die Toilette musste. Die Tür des Klassenzimmers war noch fast zehn Meter von ihr entfernt, unzählige dieser kleinen Schritte, und ihr Klassenlehrer, Herr Harbach, tat ihr den größten Gefallen nicht, um den sie ihn innerlich anflehte: Er öffnete nicht die Tür, um nachzusehen, ob sie kam. Das war das Einzige, was das Ungeheuer in die Flucht geschlagen hätte.
Ihr war, als bewege sich der Bär heute schneller. War sie zu langsam? Oder zu schnell?
Eine der Neonröhren begann zu flackern, gerade jetzt. Bis eben war sie noch in Ordnung gewesen. Die defekte Lampe befand sich genau über dem Ungeheuer, und das summende Flackern (wie von einem zuckenden, verendenden Tier) ließ das fettige, glänzende Fell des Monsters geradezu aufflammen! Es war, als hätte sich das Tor in eine andere Welt geöffnet. Im nächsten Augenblick fing eine zweite Röhre an zu blinken, und die Umgebung wurde in ein Durcheinander aus Neonblitzen getaucht. Ein Gewitter schien sich im Flur zu entladen.
Das war mehr, als Sandra ertragen konnte.
Sie stürzte zur Tür, tastete nach der Klinke, und als sie sie dreimal verfehlte, weil sie den Blick noch immer nicht von dem Monster nehmen konnte, das jetzt rapide schnell auf sie zu schwankte, wurde es ihr für eine Sekunde schwarz vor den Augen. Sie taumelte, prallte gegen die Tür, verlor die Kontrolle über ihre Schließmuskeln und machte sich in die Hose.
Das nahm sie nur am Rande wahr, denn das Ungeheuer war nun über ihr, und es schien nicht mehr drei Meter, sondern zehn Meter groß zu sein, eine zyklopische, formlose Masse aus verklebtem Fell, eine Art Berg aus Haaren mit einem Gipfel aus unregelmäßig aufblitzenden grünen Augen. Als das Monstrum den Kopf zu ihr herunter neigte, glaubte sie durch das geöffnete Maul zwischen den spitzen Zähnen hindurch etwas von den grauenvollen Etwas auszumachen, das sich in dem Bärenfell verbarg.
Das Poltern, das ihr Aufprall gegen die Tür verursacht hatte, musste Herrn Harbach aufmerksam gemacht haben, denn der Lehrer riss nun die Tür auf, und das Ding, das sich ohne Zweifel angeschickt hatte, das kleine Mädchen endgültig auszulöschen, verschwand. Als hätte das Öffnen der Tür am anderen Ende des Korridors einen Sog entstehen lassen, der es mit sich in ein fremdes Reich riss.
2
Margarete wäre es nicht unrecht gewesen, wenn sie den Termin hätte absagen können. In den letzten Wochen war es auf dem Schloss wieder einmal turbulent zugegangen. Nachdem Melanie ihnen von ihren Erlebnissen in dem Kloster berichtet hatte, in das sie sich freiwillig hatte bringen lassen, war sie zusammen mit ihren Kollegen zu dem Entschluss gekommen, die Polizei einzuschalten. Auch wenn es zu den obersten Maximen der Schule gehörte, so wenig wie möglich Wellen zu schlagen, um die Öffentlichkeit und die Behörden nicht unnötig für die vielen Geheimnisse zu interessieren, die auf Falkengrund schlummerten – manchmal konnte man nicht schweigen.
Auch wenn die beiden Studentinnen Melanie Kufleitner und Dorothea Kayser in dem namenlosen Kloster zu nichts gezwungen worden waren, stand außer Frage, dass dort Handlungen geschahen, bei denen mehr als nur ein Gesetz gebrochen wurde. Wenn die dort ansässige Sekte ihre Anhänger systematisch verstümmelte, um dadurch den Wahrnehmungen der Sinne zu entsagen, so überschritt das den gesetzlich vorgesehenen Rahmen der freien Religionsausübung eklatant. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Gläubigen diesen Operationen vermutlich zugestimmt hatten. Am Ende dieser makabren Reihe von Verstümmelungen stand ein gliederloser, sinnenloser Torso. Dass dieser offenbar über paranormale Fähigkeiten verfügte, wäre für die auf Falkengrund betriebene Forschung sicher interessant gewesen, rein wissenschaftlich gesehen, doch Margarete hielt es für besser, ihre Nase nicht in diesen Fall zu stecken. Vor ihrer eigenen Haustüre stapelten sich weiß Gott genügend ungelöste Rätsel.
Melanies „Traum“, bei dem es sich wohl eher um eine Nahtod-Erfahrung handelte, war eines dieser Rätsel. Gab es tatsächlich Verbindungen zu Madokas Familie, wie diese behauptete – konnten Madokas Vater und Bruder wirklich durch Melanies Augen verfolgen, was auf Falkengrund geschah? Margarete zögerte noch, sich zu diesem Thema eine Meinung zu bilden. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass noch nicht alle Karten auf dem Tisch lagen. Sogar Werner schien etwas zu verbergen zu haben, und bisher hatte sie ihn nicht bewegen
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