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Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann

Titel: Der blutige Baron - Lorenz - Der Buhmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Bär war. Das war es gerade, was es so furchteinflößend machte.
    Die toten Murmelaugen in dem riesigen Schädel schillerten grün, die schwarze Schnauze war einen Spalt geöffnet und entblößte spitz zulaufende gelbe Zähne. Der zottige Bärenkörper war wie ein Sack. Dort, wo bei einem echten Tier Muskeln gewesen wären, gab es nur schlaffes Fell. Die Tatzen mit den scharfen Krallen bewegten sich in unnatürlicher Weise hin und her, und wenn sie das taten, warfen die fransigen Arme merkwürdige Falten, die so aussahen, als befinde sich im Inneren etwas sehr, sehr Dünnes. Vielleicht gar nichts.
    Das Ding sah ungefähr aus, als hätte sich das Skelett eines Bären eine Bärenhaut übergezogen. Sandra hatte einige Monate gebraucht, um auf diese Beschreibung zu kommen, und seit sie sie gefunden hatte, hielt sie daran fest. Zuerst hatte sie natürlich daran gedacht, im Inneren des Fells könne ein Mensch stecken, aber so hagere Menschen gab es nicht. Außerdem war das Ding schnell, sehr schnell. Einmal war ein Lehrer in den Flur getreten, während sie dem Monster gegenüberstand, und es war mit einer wischenden Bewegung in den Schatten an ihr vorübergesaust, wie ein plötzlicher Windstoß. Der Lehrer musste etwas davon in den Augenwinkeln gesehen haben, denn er blieb stehen und blinzelte verwirrt, doch dann ging er weiter und schüttelte den Kopf über sich. Das Mädchen, das da mitten im Flur stand, schien er nicht einmal wahrzunehmen. Stattdessen murmelte er etwas über die steigenden Anforderungen seines Berufes. Sandra war erleichtert, denn er hatte das Ungeheuer verscheucht, für den Augenblick.
    Heute war niemand zu sehen, der es verjagen konnte.
    Es stand an seinem angestammten Platz, am Ende des breiten Korridors, gleich neben den Garderobehaken, an denen auch heute nur vereinzelte Kleidungsstücke hingen, weil die Lehrer nichts mehr sagten, wenn die Kinder ihre Jacken mit ins Klassenzimmer nahmen. Einem Jungen war letzten Winter ein teurer Mantel gestohlen worden, und seine Eltern hatten die Schule auf Schadenersatz verklagt. Sandra fragte sich, warum der Dieb dem Ungeheuer nicht begegnet war, während er sich ganz alleine im Flur aufhielt. Ungeheuer waren ungerecht. Das machte sie so grauenvoll.
    Das Monster hielt den Kopf etwas schräg. Die Neonleuchten an der Decke ließen die Augen kalt aufblitzen. Die Tatzen waren angehoben, das Fell hing lappig herab. Leicht schwankend machte das Ding einen Schritt nach vorne. Irgendwie sah es lächerlich aus, aber auch lächerliche Dinge konnten Angst machen – der falsche Bär war drei Meter groß. Sein ausgestopft wirkender Schädel stieß beinahe gegen die Decke. Falls sich doch ein Mensch darin verbergen sollte, musste er mindestens zwei Meter fünfzig messen. So große Menschen gab es nicht.
    Sandras Klassenzimmer war nicht das letzte im Gang. Wäre es das gewesen, wäre sie gewiss schon lange wahnsinnig – oder tot – oder beides. Der Raum ihrer Klasse 5b lag auf halber Strecke zum Ende des Korridors.
    Sie hatte die letzte Stufe genommen, stand nun auf einer Höhe mit dem Monster. Aber natürlich konnte man nie auf einer Höhe mit so einem Wesen stehen. Unendlich langsam bewegte sie sich vorwärts, die Füße über den Boden ziehend. Auch das Ungeheuer näherte sich ihr langsam mit Schritten seiner schlabberigen Beine. Der Gang war von der Treppe aus fast dreißig Meter lang. Schon jetzt war die Distanz zwischen ihnen kleiner. Zu rennen machte keinen Sinn, wenn man einmal Zeuge geworden war, mit welcher Geschwindigkeit sich das Ding bewegen konnte. Vielleicht konnte man ihm mit einem Jet entkommen, aber jedenfalls nicht zu Fuß, nicht zu Fahrrad und nicht im Auto.
    Sandra spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Auch ihr Brustkorb war zu klein für ihr wummerndes Herz. Merkwürdigerweise spürte sie ihr Herz am stärksten in den Fingerspitzen schlagen. Der Schweiß auf ihrem Körper, der zu trocknen begonnen hatte, bekam neuen Nachschub. Die ganze Zeit über ließ das Ding sie nicht aus den Augen und sie das Ding nicht, die Lippen aufeinandergepresst, die Augenlider zuckend.
    Ein einziges Mal, vor Monaten, hatte sie versucht, es anzusprechen, doch es hatte nicht geantwortet. Es wollte nicht reden. Aber was wollte es? Ihr Angst einjagen? War das alles? Würde sie graue Haare haben, ehe sie in die sechste Klasse kam?
    Oder würde es dafür sorgen, dass sie die sechste Klasse nie erreichte?
    Ihre Glieder kribbelten, als wären sie eingeschlafen, und sie spürte, wie

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