Der Blutkönig: Roman (German Edition)
Wintersonnenwende?« Roysters Stimme riss Tris aus seinen Gedanken.
Tris durchsuchte seine Erinnerungen. Bricen war nicht sehr gläubig gewesen, und Margolans Festlichkeiten hatte die fromme Ernsthaftigkeit anderer Königreiche gefehlt.
»Wintersonnenwende ist der kürzeste Tag des Jahres«, meinte Tris und tat sein Bestes, sich zu erinnern. »Die längste Nacht des Jahres. Das Geisterreich ist dann näher als beispielsweise am Hagedornmond, der Sommersonnenwende. In diesen Nächten ist die Barriere zwischen den Reichen der Lebenden und der Toten besonders dünn.« Er machte eine Pause. »Zur Wintersonnenwende sind uns die Geister näher, weil die Reiche sich nicht mehr im Gleichgewicht befinden, und die Waage in der Hand der Lady neigt sich dem Reich der Toten zu. Nach dieser Nacht werden die Tage wieder länger, bis die Balance im Frühling wieder hergestellt ist, wenn Tag und Nacht wieder gleich lang sind. Dann neigt sich die Waage wieder, bis hin zum Hagedornmond.«
Royster nickte. »Was weißt du über die Aufgabe eines Seelenrufers zur Wintersonnenwende?«
Tris versuchte, sich an die Feiertage seiner Kindheit zu erinnern, an denen Bava K’aa eine wichtige Rolle an seines Vaters Hof gespielt hatte. Zwei Wochen vor der längsten Nacht des Jahres begannen die Festlichkeiten zur Sonnenwendfeier, eines der glänzendsten Feste des Jahres, voller Kerzen und Fackeln, Banketten und Prozessionen. Er hatte vage Erinnerungen von seiner Großmutter, die die Geister des Königreichs im Palast willkommen hieß, aber zu welchem Zweck wusste er nicht zu sagen.
»Ich weiß es nicht«, gab er verlegen zu.
»In den Tagen nach der Sonnenwende helfen die Seelenrufer die Unausgewogenheit zwischen den Reichen der Lebenden und der Toten auszugleichen«, meinte Royster. »Es ist sehr wichtig, das zu tun, wenn der Vorhang zwischen beiden Reichen so dünn wie an diesem Tag ist. Du musst lernen, für die Geister Hof zu halten und das gestörte Gleichgewicht wieder auszubalancieren.«
»Warum?«
Royster schloss sein Buch. »Wie der Kreislauf des Regens und die Bewegungen des Windes ist der natürliche Weg der Magie eine Balance von Kraftströmen zwischen den Lebenden und den Toten. Als die Gabe der Seelenrufer weniger oft auftrat, wurde es immer schwieriger, dieses Gleichgewicht zu halten.
Als Arontala seine Blutmagie wirkte, vergifteten sich diese magischen Ströme. Du musst dich wie alle Magier auf diese Kraftströme stützen, den Kraftfluss, den die Schwesternschaft den Strom nennt, wenn du Arontala gegenüberstehst. Alles, was das Gift aufhalten und die Energiebalance zwischen den Lebenden und den Toten wieder herstellen kann, wird deine Kraft stärken. Du wirst Arontala herausfordern, wenn die Barrieren zwischen den Reichen wieder dünn wird.«
Tris schloss die Augen und spürte, wie er Kopfschmerzen bekam. »Ich dachte, alles, was ein Magier zu tun hat, wäre ein paar Zauberreime lernen und – puff – wäre alles erledigt.« Er fuhr sich müde mit den Händen durchs Haar.
Royster warf ihm einen trockenen Blick zu. »Das zeigt, was du bisher wusstest, nicht wahr?«, meinte er respektlos. »Oh, es gibt ein paar Reime, die ein Zauberer verwenden kann, um sich die Sequenz dessen, was er zu tun hat, zu merken, aber die Worte selbst bewirken gar nichts. Du könntest jeden ›magischen‹ Spruch mannsgroß an ein Scheunentor schreiben, aber wenn du keine Kraft hast, Magie zu wirken, dann hast du nichts als einen seltsamen Reim. Und noch dazu einen schlechten.«
»Du und die Schwesternschaft habt mir gesagt, was ein Seelenrufer darf und was nicht. Du hast mir eine Liste von jedem Geist und Gespenst gemacht und mich all die Dinge auswendig lernen lassen, die einen Geist in seiner Welt binden. Und zwischen mir und ihnen steht nur der Tod«, meinte Tris ruhig. »Aber was ist der Tod?«
Royster zog eine Münze aus seiner Tasche. »Was ist auf der Vorderseite?« Er hielt das Gold ins Licht der Flammen, sodass es glänzte.
»Das Bild des Königs.«
»Und auf der Rückseite?«
»Die Krone von Fahnlehen.«
»Kannst du die Münze zerschneiden, um die Vorder- von der Rückseite zu trennen?« Royster gab ihm die Münze.
Tris nahm sie und drehte sie in seinen Fingern hin und her, und schüttelte dann den Kopf. »Wie könnte man sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt?«
Royster nickte. »Genau. So ist es mit dem Tod. Auf der einen Seite des Todes ist eine Person lebendig. Auf der anderen bleibt nur der Geist. Aber der
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