Der Blutkönig: Roman (German Edition)
SPÄTER kehrte Tris in sein eigenes Quartier zurück, wo er ein warmes Feuer und eine Flasche mit frischem cartelasischen Brandy vorfand. Er trat sich die Stiefel von den Füßen und lümmelte sich in einen Sessel vor der Feuerstelle. Der Brandy, ein verspätetes Geburtstagsgeschenk von Vahanian und Soterius, entspannte seine Muskeln. Er ließ sich vom Feuer wärmen und schlief schließlich in seinem Stuhl ein.
Tris, hilf mir! Er konnte Kaits Stimme in der Dunkelheit um ihn herum hören und mit einem Mal saß er wieder aufrecht in seinem Sessel. Der Schrei klang durch seine Gedanken, er war nicht geträumt, sondern direkt aus der Geisterwelt gekommen. Tris schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren.
Er richtete seine Aufmerksamkeit auf sich selbst und wurde sich seiner Schutzmagie bewusst, dann tauchte er ein in die Finsternis, die Kaits Hilfeschrei hinterlassen hatte. In der grauen Welt, in die nur sein Geist reisen konnte, glitt er zwischen den Toten und den Untoten hindurch und wappnete sich gegen ihre Schreie und ihr Flehen. Mit all seiner Kraft konzentrierte er sich auf die Stimme seiner Schwester. Als er näher heran kam, konnte er ihren Schmerz spüren, ihre Angst, auch, als ihr Gesicht, gefangen in einem Gefängnis aus Glas, in seinen Gedanken deutlicher wurde. Doch bevor er sie erreichen konnte, hielt ihn eine Mauer aus kalter Dunkelheit davon ab.
Lass sie frei! , rief Tris in die Finsternis hinein, aber niemand antwortete. Seine Furcht verstärkte sich. Kaits Bild wurde blasser, obwohl ihre Hand gegen das Glas gepresst war und ihre Augen ihn um Hilfe baten.
Zeig dich! , verlangte Tris, aber wieder kam keine Antwort.
Dann fand er sich auf dem Fußboden wieder, in Roysters Kerzenlicht blinzelnd. Der Bibliothekar beugte sich besorgt über ihn. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt und Tris wusste, dass die Nacht fast vorbei war.
»Du hast Kait wieder gesehen, nicht wahr?«
Tris bemerkte, dass seine Hände zitterten. Sein Hemd war schweißnass und sein Herz pochte.
»Es war so real. Ich konnte sehen, wie sie ihr Gesicht gegen das Glas drückte. Ich hörte, wie sie um Hilfe rief.« Stockend suchte er nach Worten, die auch den Rest des Kontakts beschrieben. Royster hörte genau zu und runzelte die Stirn.
»Das war real. Ich bin kein Magier, aber ich kann spüren, wenn Magie am Werk ist. Ich habe sie selbst gespürt, deshalb bin ich gekommen. Du sagtest, dass Arontala einen Zauber um den Palast gelegt hatte, um die Geister, die deinen Vater beschützten, auszusperren?« Als Tris nickte, dachte Royster für einen Moment nach, dann ging er hinüber zu den Büchern, die auf einem Tisch in der Nähe lagen. Er setzte seine Kerze ab und blätterte durch die vergilbten Folianten und sprach dabei mit sich selbst. Endlich winkte er Tris zu sich heran und fuhr mit dem Finger an einer Passage in den Tagebüchern des Obsidiankönigs entlang.
»Sieh einmal hier. Das hier erzählt davon, wie der Obsidiankönig, ein großer Seelenrufer, begann, sich der Energie der Seelen der Toten zu bedienen. Zuerst nutzte er ihre Kraft, um ihnen zu helfen. Aber später, als er sich der Dunkelheit zuwandte, nahm er sie ihnen, um seine Macht zu stärken. Am Ende tötete er Gefangene und band ihre Geister, damit er eine Reserve hätte. Er schuf eine große Kristallkugel, einen Orb, in dem er Seelen fangen und festhalten konnte, bis er sich ihrer Lebenskraft bedienen konnte.«
»Der Seelenfänger«, murmelte Tris und erinnerte sich an den glühenden roten Orb in Arontalas Bibliothek, den er in der Nacht des Staatsstreichs kurz gesehen hatte; das gleiche rote Feuer, das er auch in der Zitadelle im Kristallanhänger um Arontalas Hals gesehen hatte.
»Als deine Großmutter mit dem Obsidiankönig kämpfte, öffneten die Magier des Lichts einen Weg zum Abgrund, damit Bava K’aa ihn in die Leere lotsen könnte und er in diesem Abgrund für immer gefangen sei.«
»Aber das tat sie nicht.«
»Nein. Sie liebte Lemuel, den Magier, dessen Körper vom Obsidiankönig besessen war, und so brachte Bava K’aa es nicht über sich, den Orb zu zerstören. Dieser Orb ist es, den du den Seelenfänger nennst. Bava K’aa hat ihn den Söhnen von Dark Haven übergeben – den Vayash Moru –, um ihn zu bewachen. Die magischen Ströme fließen stark unter Dark Haven und der Strom selbst fließt durch die Fundamente des Großen Hauses. So blieb der Obsidiankönig im Orb, dem Seelenfänger, all die Jahre am Rand des Abgrunds eingesperrt. Und
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