Der Blutkristall
regennassem Haar und einer großen Tasche über der Schulter. Er schnaufte abfällig und sprang los. Viel schien der arme Kerl noch nicht über ihre Welt zu wissen, sonst hätte er geahnt, dass der äußere Eindruck bei einem Vampir meist täuschte. Vivianne reagierte instinktiv. Sie holte aus und schlug ihm den Beutel ins Gesicht. Fast tat er ihr leid, als er wie ein gefällter Baum zu Boden ging. Sofort saß sie auf dem Angreifer und hatte beide Hände um seinen Hals gelegt, als er Sekunden später wieder zu sich kam. Ihr Anblick schien ihn zu erschrecken, seine Augen weiteten sich vor Entsetzen. «Okay! Du kannst den Kerl haben. Kein Grund gleich so wütend zu werden.»
Vivianne wusste, was ihn in Angst versetzte. Der Anblick brodelnden Quecksilbers rund um ihre tiefschwarzen Pupillen hatte schon ganz andere eingeschüchtert, sie war jetzt nichts anderes als eine tödliche Furie, und er hatte Glück, dass sie dank ihrer kürzlich eingenommenen Mahlzeit ihre Reflexe zu kontrollieren vermochte. Niemandem war geholfen, wenn sie diesem Vampir die Klinge ihres kleinen Dolchs ins Herz stieß und ihn damit so lange bewegungsunfähig machte, bis die Sonne ein weiteres Kind der Nacht zu sich holte. Sie blinzelte und schon strahlten ihre Augen in einem zwar immer noch stürmischen, aber deutlich harmloseren Blaugrün, die langen Reißzähne waren verschwunden. Hinter sich hörte sie ein erleichtertes Seufzen. Der Elf. Ihn hatte sie beinahe vergessen. Vivianne sprang auf und zog den Vampir auf die Füße. Ihre Hand blieb an seinem Hals und blitzschnell hatte sie mit einem unbemerkten Blick in seine Gedanken erfahren, was sie wissen wollte. Vivianne war gespannt, ob er lügen würde, und fragte deshalb noch einmal: «Was soll das heißen, du hast ihn zuerst gesehen?» Hinter sich spürte sie eine Bewegung. «Du bleibst da! Oder willst du gleich zwei von uns an den Fersen haben?» Salai erstarrte in der Bewegung. Er erkannte seine aussichtslose Situation und gab den irrwitzigen Plan zu fliehen vorerst auf. Außerdem interessierte ihn ebenso wie Vivianne, was der Vampir zu sagen hatte.
«Willst du etwa behaupten, du weißt nicht, dass der Statthalter einen Preis auf seinen Kopf ausgesetzt hat?»
«Tot oder lebendig?»
«Genau. Du weiß es also doch.» Vivianne hatte keine Ahnung gehabt, aber bei genauerer Überlegung erschien es logisch. Salai war Carl oder dem Statthalter – das nahm sich in diesem Fall nichts – entwischt. Grund genug, seinen Kopf zu fordern. «Es ist also egal, in welchem Zustand man den Sterblichen zurückbringt?» Sie ließ den Vampir los.
Der rieb sich seinen Hals, auf dem deutlich die Abdrücke ihrer schmalen Finger zu sehen waren. «Bist du schwer von Begriff? Das habe ich doch gerade gesagt. Tot oder lebendig, Hauptsache in einem Stück.»
«Ich will alles hören!» Vivianne machte einen Schritt auf ihn zu und er hob abwehrend beide Hände. «Schon gut. Aber lass ihn nicht entwischen, wir können uns die Prämie meinetwegen auch teilen.» Ein Grollen von ihr ließ ihn verstummen. «Was willst du, das war doch ein ganz vernünftiger Vorschlag?» Ihr Grollen wurde lauter. Ist der immer so schwatzhaft? , fragte sie niemand Bestimmten, aber sie war auch nicht weiter überrascht, als Nabrahs Krächzen erklang. Lass dir die gesamte Geschichte erzählen, mein Herz. Es könnte wichtig sein.
«Das weiß ich auch!»
Der Vampir sah aus, als wolle er eine unverschämte Bemerkung über ihren Geisteszustand machen. Er konnte ja auch nicht ahnen, dass sie von einem besserwisserischen Raben verfolgt wurde, der ihr mit Vorliebe unerwünschte Ratschläge gab. Ein Blick von ihr genügte jedoch, um ihn seinen Kommentar vergessen zu lassen, und hastig sagte er: «Dieser Typ hat dem Statthalter etwas gestohlen.»
Vivianne ließ ein trockenes Lachen hören. «Gewiss war es ein gehöriges Stück seiner Eitelkeit.»
Vivianne! , mahnte Nabrah.
«Ja, schon gut. Und weiter?»
Der Vampir sprach in einem Tonfall weiter, als hätte er es mit einer gefährlichen Irren zu tun. Vivianne konnte es ihm nicht übel nehmen, und sie hörte aufmerksam zu. Viel war es nicht, was er zu berichten hatte. Der Statthalter hatte tatsächlich einen Preis auf Salais Kopf ausgesetzt. Nicht besonders hoch, damit niemand auf die Idee kam, dass ihm der Elf etwas bedeutete, aber immerhin lukrativ genug, um das Interesse bei einigen Mitgliedern seiner Gemeinde zu wecken. Es wurde Zeit, dass sie mehr über das Angebot erfuhr, das der Dieb dem
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