Der Blutkristall
ihrer Anspannung zu verlieren, stand sie auf und ging zum Kühlschrank. Darin lagen weitere Blutkonserven, deren Etiketten beste Qualität verhießen. Hatte sie etwas übersehen und ihr Gastgeber war mehr, als er zu sein vorgab? Vielleicht war das Blut aber auch nur eine Bezahlung, die er für seine zweifelsohne niederen Dienste erhielt. Nicht zum ersten Mal, so hatte sie es seiner ansonsten sehr einseitigen Gedankenwelt entnommen, war er nämlich als Menschenfänger für den nicht minder widerlichen Carl unterwegs gewesen. Wie auch immer, diese Dinge interessierten sie vorläufig nicht. Doch sie wollte dafür sorgen, dass der Rat davon erfuhr. Gewiss würde man sich dafür interessieren, was hier in Berlin so vor sich ging. Vergehen dieser Art wurden nicht toleriert, weil sie eine Gefahr für die magische Gemeinde darstellten. Moralische Bedenken, davon war sie überzeugt, quälten die Ratsmitglieder nicht. Aber grobe Verstöße gegen ihre Regeln nahmen sie äußerst persönlich. Ein Umstand, von dem ihr jagdhungriger Bruder Kieran seit Jahrhunderten profitierte.
Vivianne nahm eine weitere Blutkonserve aus dem Kühlschrank und leerte sie im kalten Licht der Innenbeleuchtung. Sie wusste, dass Salai jede ihrer Bewegungen beobachtete. Abrupt drehte sie sich um. Der Elf zuckte zurück. Und sofort erwachte ihre Blutlust neu. Sie lachte. Das Adrenalin der vergangenen Stunden kreiste immer noch in ihren Adern. Doch dann dachte Vivianne an die Lektionen ihres Bruders. Lass dein Gegenüber niemals Furcht empfinden, es sei denn, du hast Lust auf Verbotenes. Damit hatte er natürlich die Jagd gemeint. Kein Vampir war unempfindlich gegen die Reize seiner natürlichen Beute, er unterschied sich nicht von anderen Raubtieren. Blieb das Opfer ruhig, kam es womöglich mit dem Leben davon. Rannte es fort, war sein Schicksal so gut wie besiegelt. Ein Vampir war immer schneller. Der Gedanke beruhigte sie seltsamerweise und sie konnte wieder klar denken. «Was wolltest du in dem Club?»
Salai sah sie an, als habe er sich diese Frage ebenfalls gestellt. Sie beobachtete, wie die unterschiedlichsten Emotionen über sein Gesicht huschten. Hinter der Stirn des Elfs arbeitete es sichtbar. Vivianne ließ ihm Zeit, zu einer Entscheidung zu kommen, und wurde schließlich mit einer ehrlichen Antwort belohnt. «Keine Ahnung. Ich hatte einfach das Gefühl, dorthin gehen zu müssen . So, als würde etwas Wichtiges auf mich warten, und wenn ich es verpasse, würde ich es für immer bereuen.» Er wirkte ehrlich erstaunt über seine eigenen Gedanken. Vielleicht war das der Grund für seine nächsten Worte. «Hör zu, es tut mir leid, dass ich bei dir eingebrochen bin und diesen verflixten Stein geklaut habe. Hätte ich gewusst, was das Ding mit mir macht, für nichts in der Welt hätte ich es auch nur angerührt.»
Vivianne holte sich noch einen Beutel. Wer wusste schon, wann es wieder so einfach wäre, ihren Blutspiegel aufzufüllen. Sie setzte sich. «Das Beste ist, du erzählst die Geschichte von Anfang an. Wieso laufen neuerdings so viele männliche Lichtelfen herum?»
«Das ist nicht neu. Wir gehen euch nur normalerweise aus dem Weg. Du dachtest wahrscheinlich, wir sitzen irgendwo unter der Erde und lassen uns von unseren Frauen herumkommandieren.» Eine Spur Bitterkeit klang in seiner Stimme mit. «So ist es aber nicht mehr, seit der Prinz beschlossen hat, in dieser Welt zu leben.»
«Ein Prinz. Und wann hat seine Hoheit entschieden, uns mit seiner Anwesenheit zu beehrten?» Vivianne sah ihn ungläubig an.
«Das war vor meiner Zeit. Vielleicht vor sechshundert Jahren oder so.» Er machte eine Handbewegung, als käme es auf ein paar Jahrhunderte mehr oder weniger nicht an. «Anfangs wusste niemand, ob er seiner Schwester in eure Welt gefolgt war. Als Gerüchte aufkamen, dass er unter den Sterblichen lebt, waren viele Lichtelfen schockiert, aber inzwischen sind ihm einige gefolgt.»
«Er hat also einen ganzen Hofstaat um sich versammelt?» Das wurde ja immer schöner. Sie fragte sich, ob ihre Familie davon wusste.
Salai blickte betrübt. «Leider nein. Niemand weiß, wo er sich aufhält.»
«Dann hat er gar nichts mit dem Diebstahl zu tun?»
«Natürlich nicht!» Salai schien ehrlich bestürzt zu sein, dass sie so etwas überhaupt denken konnte. «Ein Prinz stiehlt doch nicht.»
«Warum reden wir dann über ihn? Ach, schon gut», kam sie ihm zuvor. «Ich habe danach gefragt. Aber jetzt möchte ich wissen, wie du auf die Idee gekommen
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