Der Blutkristall
neugierig, wohin er ging. Sie schlug den Kragen ihres Mantels hoch und beobachtete, wie er eilig die Straße überquerte. Salai machte einen bemerkenswerten Satz, um dem schnell herannahenden Auto auszuweichen, aus dem wummernde Beats von leichtsinnigen Insassen zeugten, wenn ihr Fahrstil dies nicht bereits getan hätte. Die Fußgängerampel sprang auf Rot um. In den Scheinwerfern der anderen Fahrzeuge war Vivianne nur ein konturloser Schatten, der durch den beständig niedergehenden Regen glitt. Sie streifte einen Passanten, der erschrocken zusammenzuckte. Nicht gerade eine Glanzleistung, aber glücklicherweise blieb der Zwischenfall ansonsten unbemerkt. Salai war in einem Hofeingang verschwunden, und sie musste sich beeilen, wenn sie ihn nicht verlieren wollte. Unauffällig glitt sie an der glatt verputzten Hauswand entlang und fand sich in einem länglichen Hof wieder, in dem sich zu ihrer Überraschung diverse Geschäfte aneinanderreihten. Eine Tür öffnete sich und aus dem Restaurant mit der rot leuchtenden Schrift kamen lachend drei Sterbliche. Die warme Luft, die sie mit ins Freie brachten, war schwer von orientalischen Gerüchen. Darüber lag neben dem leicht stechenden Duft exotischer Gewürze sehr präsent das Aroma frischen Knoblauchs. Vivianne hielt sich tief in den Schatten verborgen, nahm erneut Witterung auf und fand die süßlich harzige Spur des Diebs schnell wieder. Unbemerkt von den Sterblichen, die so nahe an ihr vorbeigingen, dass es kein Problem gewesen wäre, einem von ihnen eine Hand auf die Schulter zu legen, überquerte sie den Hof bis zu einem weiteren Durchgang. Sie sah nach oben, bevor sie ins Freie trat. Auch hier hatten die Häuser fünf Etagen, im Erdgeschoss befanden sich weitere Läden, Tische und Stühle standen vor einem Café. Die Linde in der Mitte des Hofes hatte alle Blätter abgeworfen und streckte ihre knorrigen Arme nach den Häuserfassaden aus. Vivianne fragte sich, wer hier im Winter wohl draußen sitzen mochte. Jetzt saß jedenfalls niemand im Regen, und auch von Salai war keine Spur zu entdecken. Sie eilte weiter. Besorgt, ihn verloren zu haben, durchquerte sie die dritte Passage. Ein kaum hörbares Geräusch. Der typische Geruch. Vivianne sprang hervor und drückte den Dieb an die Hauswand, bevor er erneut fliehen konnte. «Hallo Salai!» Sie hätte beinahe gelacht, als sie sein Gesicht sah.
Ungläubiges Entsetzen. «Du kannst mir nichts tun!»
«Was wollen wir wetten, Elf!»
Jetzt wurde er noch bleicher. Dann aber, erstaunlich schnell, fasste er sich wieder und wirkte ganz ruhig. Doch der Puls an seiner Schläfe verriet ihn. Sein Herz schlug zu schnell, er wartete auf etwas, und was auch immer das war, es gab ihm die Ausstrahlung eines Tieres auf der Flucht. Viviannes Instinkte schrien danach, das Wild zu stellen, doch sie unterdrückte den Impuls, dem Dieb an die Gurgel zu gehen.
«Woher ...?» Seine Stimme verriet ebenso wie der Rest seines Körpers die aufsteigende Panik.
Es war nur ein Schuss ins Dunkle gewesen, aber sie hatte recht gehabt. Salai war ein Elf und deshalb ein geeigneter Wirt für den Blutkristall. Sie unterdrückte den Impuls, ihm auf der Stelle den Schädel einzuschlagen und ihren rechtmäßigen Besitz wieder an sich zu nehmen.
«Vampir!» Seine Worte waren nur geflüstert, aber Vivianne verstand sofort. Blitzschnell drehte sie sich und knickte dabei fast um. Es blieb keine Zeit, das unpraktische Schuhwerk zu verfluchen, also kickte sie ihre Pumps fort und wartete nun auf bloßen Füßen auf den Angriff. «Und wer bis du?»
Der Vampir musterte sie feindselig. Er besaß diese gewisse Aura, die ihresgleichen als Frischling kennzeichnete. Es war, als hinge die zähe Hülle seiner menschlichen Existenz in Fetzen von seinem Leib, womöglich war er vor kaum mehr als ein paar Monaten transformiert worden. Viviannes Nasenrücken kräuselte sich, als sie ein Hauch seines Atems streifte. Dies war kein ernsthafter Gegner für jemanden wie sie, zumindest hoffte sie das.
Er wollte sich ihre Musterung offenbar nicht länger gefallen lassen und ließ ein Fauchen hören. «Ich habe ihn zuerst entdeckt!»
Salai sah nervös von einem zum anderen, war aber klug genug, sich vorerst ruhig zu verhalten.
«Was meinst du damit?» Vivianne war einen Wimpernschlag lang irritiert, doch bevor ihr Gegenüber seine Chance nutzen konnte, fixierte sie ihn erneut. In seinen unruhigen Augen spiegelte sich, was er nun verwirrt betrachtete. Eine barfüßige Vampirin mit
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