Der Blutkristall
weiß», flüsterte sie. «Aber du hast gehört, was er erzählt hat. Und hier vermutet uns niemand. Rühr dich nicht vom Fleck, wenn dir dein Leben lieb ist. Ich bin gleich zurück.» Vorsichtig öffnete sie die Tür, durch die ihr unfreiwilliger Gastgeber verschwunden war. Dahinter herrschte tiefste Dunkelheit. Mithilfe des Lichts in ihrem Rücken sah sie aber genug, um zu erkennen, dass die Fenster sorgfältig abgeklebt waren, hier würde auch an einem hellen Sommertag kein Sonnenstrahl hereinfallen. Leider war die Frischluftzufuhr ebenso effizient unterbunden. Es roch moderig, und sie wollte sich lieber nicht vorstellen, woran das sonst noch liegen konnte. In der Ecke stand ein Sarg. War dieser Vampir Traditionalist oder einfach nur dumm? Doch letztlich war es egal, ein Sarg war sogar das Beste, was ihr passieren konnte. Lautlos trat sie näher und begann einen Zauber zu weben. Sie war nicht besonders geschickt darin, aber der magische Knoten, den sie knüpfte, würde den Jungspund für die nächsten Nächte in seinem selbst gewählten Gefängnis nicht nur festhalten, sondern, sofern sie alles richtig gemacht hatte, ihn darüber hinaus für das Geschehen in seiner Umgebung blind und taub machen. Große Sorgen um sein Überleben machte sie sich nicht, denn wer schläft, kommt auch mit wenig Blut aus, und er hatte sich soeben gestärkt ... vor ihren Augen und ohne ihr etwas anzubieten. «Schöne Träume!» Sie grinste. Jeder wusste schließlich, dass geschaffene Vampire nicht träumten. Behutsam schloss sie die Tür hinter sich.
Salai hatte unterdessen den Kühlschrank inspiziert und hielt ihr zwischen spitzen Fingern einen Beutel entgegen.
«Was ist das? Ein Friedensangebot?»
Er lachte sogar. «Ich dachte nur, wenn du satt bist, hast du weniger Lust auf mein Blut.» Er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Schlafzimmertür. «Und was nun?»
«Zwei Sekunden.» Und viel länger brauchte Vivianne tatsächlich nicht, um sich aus dem Kleid zu schälen, die Lederhose wieder anzuziehen und ihr T-Shirt überzustreifen.
Salai sah ihr interessiert zu. «Bist du sicher, dass kein Feenblut in deinen Adern fließt?»
«Wie kommst du denn darauf?»
«Wie du den Kleinen heiß gemacht hast, das war schon sehr professionell. Ich dachte, ihr würdet es gleich da draußen im Regen treiben. Jetzt, wo er weg ist – du hast nicht vielleicht Lust ...?»
Vivianne warf ihm einen finsteren Blick zu und sofort hob er beschwichtigend die Hände. «Das war als Scherz gemeint.» In seinen Augen las sie etwas anderes. Es war wirklich schwer zu sagen, wann er schauspielerte und in welchen Situationen der wahre Salai aus ihm sprach.
Typisch für seine Art , dachte Vivianne. «Ich muss jemandem wie dir doch nicht erklären, dass sexuelle Visionen die einfachste Methode sind, die Konzentration des Gegners zu stören. Glaubst du etwa im Ernst, dass ich mit dem da», sie zeigte auf den gut verschlossenen Sarg, «etwas angefangen hätte?» Nachdem Vivianne ihm die Blutkonserve aus der Hand genommen hatte, ließ sie sich auf das Sofa fallen, legte ziemlich schmutzige Füße auf den Tisch und riss den Beutel auf. «Ein Glas werde ich hier wahrscheinlich nicht finden, oder? Ach, was soll’s!» Sie stürzte das Blut hinunter und wischte anschließend mit dem Handrücken ihren Mund ab. Sofort spürte sie, wie es sich in ihren Adern auszubreiten begann. Diese magischen Tricks hatten mehr von ihren Kräften beansprucht, als ihr bewusst gewesen war. Vermutlich hatte der Elf ihr die Erschöpfung angesehen. Nicht dumm. Sie tat gut daran, weiter auf der Hut zu sein, sonst entkam er ihr womöglich ein weiteres Mal. Sie wies auf den schäbigen Sessel. «Setz dich!» Und als er zögerte, fügte sie schmeichelnd hinzu: «Ich tu dir nichts.»
Er setzte sich genau in dem Augenblick, als sie überlegte, ihrer Bitte eine mentale Dringlichkeit hinzuzufügen. Salai hockte aber auf der Kante seines Sitzes. Fluchtbereit. Er ließ sie nicht aus den Augen.
Vivianne war mit dem bisherigen Verlauf des Abends äußerst zufrieden. Sie hatte in freier Wildbahn gejagt und ein paar Zauber erfolgreich angewandt, von denen sie geglaubt hatte, nicht einen jemals gebrauchen zu müssen. Und ganz wichtig: Der Blutkristall befand sich in Reichweite. Salais Herzschlag spiegelte ihre Emotionen wider, und sie bemühte sich, eine innere Ruhe herzustellen. «Dir passiert nichts, keine Sorge.» Es war nicht ganz klar, ob sie ihn oder sich selbst überzeugen wollte. Um etwas von
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