Der Blutkristall
jedoch ungelöst. Obwohl sie früh am Abend ausreichend Blut zu sich genommen hatte, erwachte ihr Hunger mitten unter so vielen Sterblichen erneut. Sicherlich war auch ihr Aufenthalt in der Zwischenwelt nicht ganz ohne Folgen geblieben. Eine solche Reise galt nicht nur unter jungen Vampiren als kraftraubend. In der freien Wildbahn hatte sie sich noch nie zuvor ernsthaft als Jägerin beweisen müssen. Ihr Kühlschrank daheim war immer gut gefüllt gewesen, jetzt aber musste sie für sich selbst sorgen. Einen weiteren Schwächeanfall konnte sie sich nicht leisten. Und das Gegenteil, nämlich der absolute Kontrollverlust, der gewiss in einem Blutbad enden würde, war auch nicht eben wünschenswert. Sie musste also schnell etwas unternehmen. Kein Problem , beruhigte sie sich. Gewiss würde sich bald eine Gelegenheit finden, ihren Blutspiegel aufzufüllen. Ohne Dach über dem Kopf zu sein, auf der Suche nach einem entflohenen Dieb, das galt sicher als Entschuldigung für einen kleinen Snack frisch aus der Quelle. Und überhaupt, ihre Brüder arbeiteten für den Rat der Vampire. Wer also könnte ihr ein kleines bisschen Vergnügen verwehren? Vivianne kannte die Antwort, aber sie beschloss, sie zu ignorieren. Und – wie praktisch – das Schicksal meinte es offenbar gut mit ihr, denn gleich darauf versuchte sich ein recht ansehnlicher Mann in Richtung Bar an ihr vorbeizudrängen.
«Du gefällst mir», sagte sie.
«Was?» Er blieb erstaunt stehen.
Vivianne richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und sah ihm in die Augen. Lad mich auf einen Drink ein! Dabei nahm sie ihre Schultern leicht zurück und gönnte ihm die volle Aussicht auf ihre körperlichen Vorteile. Das Kleid war nett dekolletiert und der Mann reagierte erwartungsgemäß. Nach einem etwas zu langen Blick, der nicht nur ihren strahlenden Augen galt, breitete sich ein Lächeln auf seinem jungen Gesicht aus. «Was willst du trinken?»
Sie lieferte ihm die volle Show. Bescheidenes Lächeln, eine leichte Körperdrehung, dann das Madonnenprofil mit gesenktem Kopf und schließlich ein direkter Blick. Begleite mich zur Bar. Diesem mentalen Befehl schickte sie eine erotische Fantasie nach, die seinen Puls sofort beschleunigte. Mit seiner Erregung wuchs sogleich die ihre. Sie hatte ihr Wild erspäht und würde es mit tödlicher Sicherheit stellen. Sie spürte seine Hand federleicht an ihrer Schulter, und als Vivianne dies ohne zu widersprechen geschehen ließ, wurde er mutiger. Die laute Musik schmerzte in ihren empfindlichen Ohren. Wie gut, dass sie all ihre Sinne nach Belieben einsetzen konnte. Der unerfahrene Narr war überzeugt, eine hübsche Beute für die Nacht aufgespürt zu haben, und ahnte nicht, dass er selbst das Opfer werden sollte. Vivianne überließ sich ganz ihrem Jagdinstinkt. Während sie das Terrain pausenlos gegen Gefahren von Außen sicherte, sorgte sie durch wenig subtile Signale dafür, dass er das Interesse an ihr nicht verlor. Ihr Begleiter ließ ein Räuspern hören, sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und nahm das Getränk entgegen, das er ihr reichte. «Cheers!» Dabei stellte sie sich vor, wie er den Versuch, sie zu küssen, mit seinem Blut bezahlte. Ihre Hände begannen zu zittern, kein gutes Zeichen. Finesse war etwas für bessere Zeiten. Vivianne durfte nicht länger warten. Sie griff den verdutzten Mann am Ärmel und zog ihn hinter sich her. In einer ruhigeren Ecke drehte sie sich unvermittelt um. «Küss mich!» Sie hatte gerade noch genug Verstand, einen mentalen Schutzwall zu errichten, niemand würde es verwunderlich finden, wenn zwei Leute sich, von Leidenschaft übermannt, eng umschlungen in die Schatten zurückzogen. Sein Puls raste. Die geht aber ran! , las sie so deutlich in seinen Gedanken, dass er es ebenso gut laut gesagt haben konnte. Er fragte sich, was sie wirklich von ihm wollte. Vivianne schmeckte einen Hauch von Furcht in seinem Atem, aber auch Abenteuerlust und Erregung. Sie hatte den Richtigen ausgesucht, sein Blut war reich an Sauerstoff und würde wie Champagner auf ihrer Zunge perlen. Er sagte etwas, aber sie sah nur den weich geschwungenen Mund. Die vollen Lippen, vom letzten Schluck noch feucht, luden zum Küssen ein und weckten eine Erinnerung in ihr. Morgan! Sie unterdrückte ein Fauchen und legte ihre Hand in den Nacken des Unbekannten, der sich nicht lange bitten ließ und sie mit mehr Enthusiasmus als Geschick küsste. Ihre Laune war dahin, allein der Hunger blieb, das Bild des unverschämten
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