Der Blutkristall
Verräters Morgan wollte sie nicht mehr loslassen. Es waren seine Küsse, die ihr den Atem geraubt hatten, seine Berührungen, die sie in Flammen hatten aufgehen lassen wie eine Novizin in der Morgensonne. Ein roter Schleier senkte sich über sie, die Geräusche traten in den Hintergrund, ihre Umgebung schien sich wie in Zeitlupe zu bewegen, es zählte nur noch der Herzschlag des Mannes in ihren Armen, dann biss sie zu. Er reagierte falsch, war zusammengezuckt, wollte aus ihrer tödlichen Umklammerung fliehen. Adrenalin schoss durch seine Adern. Still! Sofort gehorchte er ihrem Befehl, wurde ganz ruhig, ließ sie gewähren und ließ schließlich wimmernde Laute der Hingabe hören. Das war nicht Morgan, kein vampirischer Liebhaber, der sie auf die Gipfel der Lust entführte, nur ein Sterblicher. Vivianne aber war ebenfalls gefangen, wie besessen vom Blutrausch, den zu beherrschen sie noch nicht gelernt hatte. Ein Raubtier, das meist in ihr schlummerte und nur selten den Kopf hob, hatte die Macht übernommen. Furchterregende Zähne in die Beute geschlagen ließ es dennoch die Umgebung keineswegs unbeobachtet. Die Wand im Rücken gab Sicherheit und über die Schulter des Opfers hinweg beobachtete es aus Viviannes Augen den Club, während es weiter in gierigen Schlucken trank. Kein Champagner, eher sprudelndes Mineralwasser , kam es ihr in den Sinn. Dennoch trank sie weiter, bis sie plötzlich jemanden erspähte.
Wahrscheinlich war es das Auftauchen des Diebes, das ihrem Opfer das Leben rettete. Vivianne bezwang das blutgierige Biest, das von ihr Besitz ergriffen hatte, und stemmte sich dagegen, bis es endlich fauchend mit wild peitschendem Schwanz wieder in seiner Höhle verschwand, um die dunkelsten Geheimnisse der vampirischen Natur zu bewachen, ehe es seine nächste Chance bekam. Eilig schloss Vivianne mit einem Zungenschlag die Wunde am Hals des Sterblichen. Er hing schwer in ihren Armen. Wäre sie gewesen, was sie zu sein vorgab – nur eine unternehmungslustige junge Frau –, hätte sie ihn nicht halten können. Aber dann , dachte sie, wäre er auch nicht in dieser erbärmlichen Verfassung. Zum Glück war sein Puls weniger schwach, als sie befürchtet hatte. Vivianne setzte ihn auf eine Bank und drückte ihm ihr unberührtes Glas in die Hand. Trink! Nach ein paar Schlucken normalisierte sich seine Gesichtsfarbe, er war jung und würde sich bald erholt haben. Rasch strich sie ihm über die Augenbrauen und befahl seinem verwirrten Hirn, die letzten Minuten zu vergessen. Er hatte zu viel getrunken und musste nach Hause. Morgen würde er einen Mörderkater haben, aber nach ein paar Tagen ausgewogener Ernährung wäre sein Blutverlust ausgeglichen.
Vivianne fühlte sich satt, zufrieden und stark. Nur ihr Gewissen mahnte mit dünnem Stimmchen an, dass dieses Wohlbefinden gestohlen war und sie mehr für den unfreiwilligen Spender tun sollte, als ihn in einer Diskothek sich selbst zu überlassen. Dafür war jetzt aber keine Zeit. Salai bewegte sich in Richtung des Ausgangs. Offenbar hatte er nicht gefunden, was er gesucht hatte, und wagte es nicht, länger an diesem Ort zu verweilen. Für Vivianne war es kein Problem, ihm unauffällig zu folgen. Dabei scannte sie ihre Umgebung. Andere Vampire waren nicht zu entdecken. Nur den erfahreneren ihrer Art mochte es gelingen, ihre Anwesenheit vor einer geborenen Vampirin zu verbergen, sofern diese es darauf anlegte, alle magischen Kreaturen in ihrer Nähe zu enttarnen. Das Risiko einer solchen Aktion war nicht gering, denn um etwas zu erfahren, musste sie ihre Schutzschilde herunterlassen und blieb dabei womöglich selbst nicht unentdeckt. In diesem Fall aber konnte sie darauf zählen, dass keinem Bluttrinker entgangen wäre, was in der dunklen Ecke vorgefallen war. Ihr Rausch hätte unweigerlich jeden Vampir in diesem Club auf sie aufmerksam gemacht. Wahrscheinlich hätten sie wie hungrige Wölfe darauf gelauert, auch ein Stück von der Beute zu erwischen. Damit tat sie ihren dunklen Verwandten allerdings unrecht. Die meisten hatten früher oder später die Kunst kultiviert, sich nicht von einer Szene wie dieser aus der Reserve locken zu lassen. Wem dies nicht gelang, der konnte schnell seinen Kopf und damit sein Leben verlieren. Unter Vampiren war die Lehre vom «Überleben des Stärkeren» durchaus wörtlich zu nehmen.
Vivianne folgte Salai auf die Straße und beobachtete, wie er sich im Schutz der Häuser bewegte. Ein wenig Vorsprung hatte er verdient, außerdem war sie
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