Der Blutrichter
Piraten erheblich geschwächt. Bestimmt würde sie versuchen, die Insel anzugreifen, so dass |519| sich keiner der Kaperfahrer mehr dorthin zurückziehen konnte.
Wenn er an Greetje dachte, hatte er seltsame Visionen. Er meinte, sie durch die Gassen der Stadt Hamburg gehen zu sehen, begleitet von Mutter Potsaksch, ihrer einzigen Verbündeten in dieser Stadt. Die Eindrücke waren so intensiv, dass er sogar ihre Stimme hörte.
Verzweifelt dachte er darüber nach, wie er ihr helfen oder eine Nachricht zukommen lassen konnte.
»Es geht nicht, es geht nicht«, rief Nikolaus Schocke und strich sich mit gezierter Geste eine Haarsträhne aus der Stirn. »So früh am Morgen habe ich noch nie mit einer Frau gesprochen. Hier im Rathaus natürlich, meine ich. Ach, Ihr bringt mich ganz durcheinander, Greetje Barg. Schrecklich!«
Sie blickte sich suchend um, entdeckte den Stuhl, auf dem sie bei ihrem ersten Besuch beim Bürgermeister gesessen hatte, und fragte höflich, ob sie darauf Platz nehmen dürfe. Er drehte die Ringe an seiner rechten Hand jeweils drei Mal, kam offenbar zu dem Schluss, dass alles Unglück abgewendet wäre, und nickte. Dann schob er das Tintenfass einen Fingerbreit zur Seite, wobei er es nach der Maserung der Holzplatte seines Schreibtisches ausrichtete, und legte die Feder mit spitzen Fingern daneben.
»Also, was führt Euch zu mir, Greetje Barg?«, fragte er. »Hoffentlich bringt es kein Unglück, dass ich mit Euch rede.«
»Unglück möchte ich abwenden«, erwiderte sie. »Wie ich erfahren habe, hat Richter Wilham von Cronen als Repräsentant der Stadt Hamburg alle gefangenen Freibeuter zum Tode durch das Schwert verurteilt.«
»Ja, ja, das ist richtig«, bestätigte der Bürgermeister |520| und betrachtete angelegentlich seine Fingernägel. Sie schienen ihn viel mehr zu interessieren als das, was die junge Frau vorzutragen hatte.
»Von Cronen hat kein Recht, sie zu verurteilen.«
»So, so?« Nikolaus Schocke blickte auf.
»Er ist ein Mörder«, klagte Greetje. »Er hat seine Frau vergiftet, und er hat meinen Vater gezwungen, ihm das Gift zu geben. Dafür gibt es einen Zeugen.«
Nikolaus Schocke richtete sich kerzengerade auf. Sein Gesicht spannte sich an. »Das ist eine schwerwiegende Beschuldigung.«
»Ich weiß«, entgegnete Greetje und gab sich ihrerseits gleichgültig. Sie senkte den Kopf und faltete die Hände. »Und diese Beschuldigung richtet sich obendrein gegen den großen Helden von Hamburg, dem es als Einzigem gelungen ist, Claas Störtebeker und die Freibeuter gefangen zu nehmen, nach Hamburg zu bringen und in den Kerker zu werfen. Wilham von Cronen wird von allen Hamburgern ob seiner Großtat verehrt. Ich weiß.«
Verstohlen beobachtete sie den Bürgermeister, den es nun nicht mehr auf seinem Stuhl hielt. Sie hatte ihre Worte mit Bedacht gewählt. Sie sollten provozieren. Seit vielen Jahren verstand sich Nikolaus Schocke nicht nur als Oberhaupt der Stadt, sondern vor allem als Admiral. Unzählige Male war er mit einer Flotte in Nord- und Ostsee aufgebrochen, um die Freibeuter aufzuspüren und zu schlagen. Es war ihm nie gelungen. Umso mehr ärgerte ihn, dass Wilham von Cronen nun erfolgreich war und den ganzen Ruhm für sich beanspruchte.
Greetje konnte ein Gefühl des Triumphes nicht unterdrücken. Sie hatte Schocke richtig eingeschätzt. Er war ein äußerst abergläubischer Mann, aber er war vor allem außerordentlich eitel.
»Wie man sich in der Stadt erzählt, sieht sich Wilham |521| von Cronen bereits als neuer Bürgermeister von Hamburg«, fuhr sie mit ruhiger Stimme fort, um süffisant hinzuzufügen: »Er scheint davon auszugehen, dass Ihr Euer Amt vorzeitig aufgeben wollt.«
Nikolaus Schocke hob abwehrend eine Hand, um ihr zu bedeuten, dass sie schweigen möge. Sie beugte sich seinem Wunsch. Er setzte sich, blickte ins Leere und dachte lange nach.
»Ihr irrt Euch, wenn Ihr glaubt, dass ich irgendetwas für die Freibeuter tun werde«, meinte er endlich. »Diese Männer haben gegen das Gesetz verstoßen. Sie sind zu Recht verurteilt worden. Daran ist nicht mehr zu rütteln. Eine Begnadigung kommt nicht in Frage. Sie wäre das falsche Signal an jene Freibeuter, die sich noch in Freiheit befinden. Der Piraterie muss ein Ende bereitet werden. Deshalb werden diese Männer hingerichtet. Alle. Ohne Ausnahme. Nur eine Frage: Wer ist der Zeuge, von dem Ihr gesprochen habt?«
Greetje nannte den Namen und erzählte den Hergang. Nikolaus Schocke hörte aufmerksam zu. Am Ende
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