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Der Blutrichter

Der Blutrichter

Titel: Der Blutrichter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans G. Stelling
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dass ihr nicht den Kopf verliert, wenn es so weit ist!«
    Auf dem Weg zum Grasbrook waren überall Stände aufgebaut, an denen es Bier, Säfte, Suppen und über dem Feuer gegartes Fleisch oder geräucherten Fisch gab. Die Menge schien das Ereignis als Volksfest zu betrachten. Ausgelassen, jedoch ohne das geringste Mitgefühl, ließ sie den Zug der Todeskandidaten an sich vorbeiziehen. Trotz der zahlreich postierten Wachen sprangen immer wieder übermütige Kinder oder geltungssüchtige Männer vor den Ochsenkarren, um ihn aufzuhalten.
    »Immer langsam, Kutscher«, forderten einige von Gromann. »Wir wollen uns die Burschen ansehen, solange sie den Kopf auf den Schultern haben.«
    Viele Männer und Frauen beließen es nicht bei Beschimpfungen, Spott und Hohn, sie warfen mit Pferdekot oder Speiseresten nach den Männern auf dem Ochsenkarren, und wenn sie einen von ihnen im Gesicht trafen, brüllte die Menge vor Vergnügen.
    »Oh mein Gott«, stöhnte Gromann. »Hätte ich das geahnt, hätte ich mein Gespann nicht angeboten. Wie können die Menschen nur so niederträchtig sein?«
    Ein halb verfaulter Lachs prallte Hinrik an den Kopf und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Störtebeker stützte ihn gerade noch rechtzeitig ab.
    »Sie wollen uns demütigen«, sagte Störtebeker. »Sie sind schwach, und sie fallen über uns her, weil sie glauben, dass wir schwächer sind als sie. Keiner von ihnen verdient unsere Beachtung. Ignoriert sie. Etwas anderes haben sie nicht verdient.«
    Er zuckte nicht mit der Wimper, als ein Apfel dicht an seinem Kopf vorbeiflog. Sie sahen sich an, und Hinrik |526| fand in seinen Augen Trost. In dem klaren Antlitz zeichnete sich keinerlei Furcht ab. Ein seltsam scheues Lächeln schwebte auf den bärtigen Lippen. Störtebeker wusste, was auf ihn zukam, aber er beugte sich nicht. Hinrik bewunderte ihn ob seiner Ruhe, seiner Gelassenheit und seines Stolzes.
    »Gottes Freund und aller Welt Feind«, zitierte er. »Ich verstehe jetzt, was Ihr damit meint.«
    Störtebeker sah kurz in die Runde.
    »Diese Christenmenschen scheinen Gott vergessen zu haben«, meinte er. »Wir nicht. Ich hätte gern noch ein wenig gelebt. Ich wäre gern bei meiner Familie gewesen. Und wenn irgendetwas in mir brennt, dann ist es der Wunsch, zu erfahren, wer uns verraten hat und wer der bronzene Ritter ist. Aber letztendlich spielt es keine Rolle. Der Tod ist nicht endgültig. Er ist nur ein Übergang zu Gott. Vergesst das nicht.«
    Er war ein in sich gefestigter Mann, so stark in seinem Glauben an Gott, dass ihm das Grauen der bevorstehenden Hinrichtung keine Angst einjagen konnte.
    »Ich bin nicht so stark wie Ihr«, gestand Hinrik.
    »Doch, bestimmt«, widersprach Störtebeker und warf ihm einen strengen Blick zu. Er ließ keinen Zweifel gelten. »Ich bin froh, dass ich Euch kennen gelernt habe, Hinrik vom Diek.«
    »Und ich bereue nicht, dass ich mich Euch angeschlossen habe. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es so enden kann.«
    Sie hörten die Schmähungen der Menge nicht mehr. Die derben Witze und das Gelächter schienen einer anderen Welt anzugehören, die immer weiter vor ihnen zurückwich.
    Hinrik merkte, dass er von einer inneren Ruhe erfasst wurde, die die Furcht vor dem nahen Ende nicht mehr |527| zuließ. Er dachte an Greetje, und mehr denn je bedauerte er, dass er ihr nicht mehr begegnen würde. Er schloss die Augen, um ihr Bild vor sich zu haben, er sah sie liebevoll lächeln, und er fühlte ihre warmen Lippen auf den seinen. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Alle Last fiel von ihm ab. Er spürte die Ketten an den Füßen und die Lederriemen an den Handgelenken nicht mehr. Der Ochsenkarren rumpelte auf seinem Weg voran, und Hinrik glich instinktiv jedes Schwanken mit den Beinen aus, ohne sich dessen bewusst zu sein.
    Wie ein Schock traf es ihn, als der Wagen plötzlich hielt. Er öffnete die Augen und sah, dass sie die kleine Insel Grasbrook erreicht hatten. Er hatte nicht gehört, wie der Wagen über die Holzbrücke gerollt war. Ein weites Rund war errichtet worden, in dessen Mitte der Henker stand, groß, wuchtig in seiner Erscheinung, schwarz gekleidet mit einer schwarzen Kapuze, die nur die Augen und den Mund frei ließ. Er stützte sich auf das in der Sonne blinkende zweischneidige Schwert, das an diesem Tag einhundertdreiundfünzig Männer töten sollte.
    Auf einer Tribüne trafen nun die hohen Herren vom Rat der Stadt ein, Wilham von Cronen, Jacob Lubbe, Hermann Langhe, Nikolaus Schocke, der

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