Der Blutrichter
eine dumme Gans, die voller Selbstmitleid war, doch das änderte nichts. Es dauerte lange, bis sie sich erholt hatte. Sie fand etwas Wasser und tupfte sich das Gesicht damit ab. Sie musste mit jemandem reden. Sie konnte und wollte nicht länger allein sein.
Als sie das Haus verließ, war es dunkel geworden. Einige wenige Männer hielten sich in den Gassen auf. Greetje eilte an ihnen vorbei. Sie kannte niemanden, und sie war froh darüber. Unbehelligt erreichte sie das Schollenhaus. Sie klopfte und trat ein. Mutter Potsaksch saß am Kamin und wärmte eine Suppe über dem Feuer. Erstaunt blickte die alte Frau sie an.
|514| »Ihr, Greetje? Habt Ihr endlich zurückgefunden? Dann wisst Ihr sicherlich, dass Hinrik unter den Freibeutern im Kerker ist?«
»Hinrik? Im Kerker?« Der jungen Frau verschlug es die Sprache. Damit hatte sie nicht gerechnet. Während der Fahrt von Helgoland nach Hamburg hatte niemand etwas davon erwähnt. Auch Thore Hansen nicht, der keine Gelegenheit ausgelassen hatte, sich herablassend oder gar verleumderisch über Hinrik zu äußern. So war sie vollkommen ahnungslos.
Mutter Potsaksch berichtete, was geschehen war. Sie konnte die Ereignisse allerdings nur so schildern, wie man in der Stadt darüber sprach. Demnach hatte die Flotte der Hanse unter Wilham von Cronens Führung die Freibeuter in einer heldenhaften Schlacht in die Knie gezwungen, so dass sie keine andere Wahl gehabt hatten, als zu kapitulieren. Verächtlich schürzte sie die Lippen. Sie hatte nichts für Wilham von Cronen und seine Familie übrig.
»Leider ist der Ratsherr jetzt obenauf«, fuhr sie fort. »Nach diesem Erfolg gilt er als unangreifbar in der Stadt. Man spricht sogar schon davon, dass er den Bürgermeister im Amt ablösen wird.«
Greetje war so erschrocken und verstört, dass sie lange brauchte, um sich zu fassen. »Was können wir tun?«, fragte sie mit bebender Stimme.
»Gar nichts«, erwiderte Mutter Potsaksch beinahe schroff. Ihr schmales Antlitz war von tiefer Enttäuschung und Resignation gezeichnet. »Sie werden alle Gefangenen zum Tode verurteilen. Niemand wird Wilham von Cronen daran hindern können. Er ist ein skrupelloser Mörder, und erst Gott wird ihn eines fernen Tages richten, wenn er ans Himmelstor klopft und um Einlass bittet.«
Sie saßen lange schweigend zusammen und hingen ihren Gedanken nach. Greetje wusste, dass sie ebenso in Gefahr |515| war wie ihr geliebter Hinrik, wenngleich auf ganz andere Weise. Aber solange sie irgendetwas für ihn tun konnte, wollte sie es tun, auch wenn sie dafür ein schweres Opfer bringen musste.
»Auf dem Schiff hat Thore Hansen mir gesagt, dass er mich heiraten will«, berichtete Greetje, stand auf und legte Holz nach, damit das Feuer im Kamin nicht ausging. »Er behauptet, Wilham von Cronen habe ihm versprochen, dass er mich bekommt. Als ob ich eine Unfreie wäre, die er vergeben kann wie eine Ware!«
»Von Cronen wird Euch zwingen, die Frau des Henkers zu werden.«
»Das kann er nicht.«
»Ich fürchte, er kann es. Er wird einen Weg finden.«
»Ich werde meinen Lebensunterhalt damit verdienen, Patienten zu behandeln. Das macht mich unabhängig.«
»Das wird er verhindern. Er wird es Euch verbieten. Glaubt mir, er ist mächtig genug, das zu tun. Er wird Euch die Luft zum Atmen nehmen, so dass Euch am Ende nur die Wahl bleibt, Thore Hansen zu heiraten oder ins Hurenhaus zu gehen.«
Greetje blickte sie entsetzt an. Die Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen.
»Das ist genau das Signal, dass er Euch mit dem Häubchen gegeben hat.«
»Ihr meint, er steckt dahinter?«
»Wer denn sonst? Glaubt Ihr, die Kinder denken sich so etwas aus? Sie haben keinen Grund dazu. Nein, das hat dieser feine Herr veranlasst, und wir können nichts gegen ihn ausrichten.« In hilflosem Zorn schüttelte die Kapitänswitwe den Kopf. »Ich bin sicher, er hat Euer Haus durchsuchen und alle Beweise verschwinden lassen, die ihn belasten. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu sprechen, aber ich denke, Eure Lage ist hoffnungslos.«
|516| »Das mag sein«, gab Greetje trotzig zurück, »aber ich gebe nicht auf.«
»Was wollt Ihr tun?«
»Ich gehe zu Bürgermeister Nikolaus Schocke.«
Hinrik blickte auf seine gefalteten Hände hinab.
Arme Greetje!, dachte er. Wenn ich doch nur irgendetwas für dich tun könnte! Der Gedanke an die Geliebte schmerzte ihn besonders. Wie gern hätte er ihr ein letztes Mal in die Augen gesehen, ihre Nähe gespürt, sie in die Arme genommen, um ihre
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