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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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gegolten – ob er nun ein Geschenk oder eine Warnung war. Sicher würde er noch den ganzen Tag lang durch ihre Gedanken spuken.
    Â»Von wegen, heute müsst ihr nicht arbeiten!«, murrte Pillpa. »Zu Hause warten sieben Mäuler auf mich, mit vierzehn Händen, und meine Eltern kommen müde aus der Werkstatt – weißt du, was das bedeutet?«
    Â»Du solltest es genießen«, entgegnete Animaya erschöpft. »Vielleicht ist es das letzte Mal, dass du die Kleinen siehst.«
    Plötzlich schien Pillpa es eilig zu haben. Mit einer hitzigen Umarmung verabschiedete sie sich von Animaya, dann rannte sie auf leisen Sohlen ihre Straße entlang.
    Animaya grinste. Sie wusste ja, dass Pillpa immer nur große Reden schwang. In Wahrheit würde sie sogar ihr Leben riskieren, um ihre Geschwister zu schützen.
    Auch ihr selbst stand noch ein schwerer Gang bevor. Animaya wollte zu Makuku, ihrem Liebling im Lamaguagehege. Später würde sie sicher nicht mehr dazu kommen – wenn eintraf, was offenbar jeder erwartete. Sie sah zum Himmel. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht und presste die Feuchtigkeit aus den Poren jeder Pflanze. Windstille. Die Luft war zum Schneiden.
    Animaya bog Richtung Gehege ab.
    In der Unterstadt war die Stimmung ganz anders als im bedrückenden Armenviertel. Alle Einwohner waren schon jetzt in heller Aufruhr. Der Zug der Umsiedler war soeben in der Stadt eingetroffen. Diese fleißigen Männer und Frauen leisteten ihren Dienst auf den Feldern des Inka tief im Wald, weit genug entfernt, um keinen Hinweis auf Paititi abzugeben. Die Bauern kehrten nur einmal im Jahr in die Stadt zu rück – wenn sie es überhaupt wagten. Unterwegs fielen sie nicht selten den Angriffen der Spinnenmenschen zum Opfer, so wie es Vinoc widerfahren war. Deshalb zogen sie es in manchen Jahren vor, in ihren einfachen Blätterbehausungen bei den Feldern zu bleiben. Umso herzlicher wurden sie nun von ihren Verwandten und Nachbarn empfangen.
    Am Haremsfest waren die Angehörigen aller Kasten für einen Tag gleich, ob Adeliger oder Bauer, Wachtposten oder Reiniger der Rinnen, durch die das Abwasser die Stadt verließ.
    Keiner beugte mehr seinen Rücken, keiner dachte an die Abgaben, die den Beamten noch zu zahlen waren. Jede Tätigkeit ruhte, den Jungfrauen des flüsternden Volkes zu Ehren.
    Dreizehn Monate lang hatte sich das Volk ruhig verhalten und nur in Ausnahmefällen geflüstert. Hatte Musik und Tanz aus seinen Köpfen verdrängt. Jetzt mussten die Menschen feiern, sonst würden sie platzen, das spürte Animaya bei jedem ihrer Schritte. Im Gegensatz zu ihrer besten Freundin gelang es Animaya nicht, die Erlebnisse des Morgens zur Seite zu schieben. Doch die Stimmung im Viertel steckte auch sie langsam an.
    Schon Wochen vorher hatten die Frauen Girlanden aus Vogelfedern und Bändern in allen Farben des Regenbogens geflochten. Zwischen ihren Männern brach nun ein wahrer Wettbewerb aus, welche Gasse am schönsten geschmückt sein würde. Zu viert, zu acht, zu zehnt hatten sie weit vor der Stadt junge Bäume gefällt und Stufen hineingeschlagen.
    Mit vor Schweiß triefenden Gesichtern schleppten sie diese Leitern nun durch das Viertel. Ziel war es, so hoch wie möglich an den Fassaden hinaufzuklettern, um noch mehr Girlanden anbringen zu können als die Konkurrenten in der Nebenstraße. Die Prozession des Inka nahm jedes Jahr einen anderen Weg durch die Unterstadt. Wenn seine Sänfte durch eine Gasse getragen wurde, verhieß das ihren Bewohnern Glück bis zum nächsten Haremsfest.
    Sehet die Ameisen und nehmt sie euch zum Vorbild: Die Einzelne bedeutet nichts, das Volk bedeutet alles. Eine Ameise allein ist nicht lebensfähig. Fragt euch jeden Morgen: Wie kann ich meinem Volk noch besser dienen? Denn sonst seid ihr wertlos.
    Dieses Gesetz hatte sich besonders tief in Animayas Gedächtnis eingeprägt. Jedes Mal, wenn sie es im Stillen wiederholte, war sie stolz, ein Teil des flüsternden Volkes zu sein. So wie jetzt.
    Sie schwebte fast wie ein Schmetterling, so leichtfüßig lief sie auf die Stallungen zu. Alles hatte seine Ordnung. Alles war gut, wie es war. Die Armen waren arm, die Adeligen reich, und wer sich nicht an die Gesetze hielt, musste bestraft werden – zum Wohle der Gemeinschaft. Während diese Gedanken wie ein erfrischender Heiltrank all ihre Sorgen vertrieben,

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