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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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erreichte Animaya das Gehege der Göttertiere.
    Es war ein riesiger Komplex im Zentrum der Stadt, direkt zwischen Tempel und Palast. Von beiden Gebäuden aus konn ten die Priester und Tupac selbst die heiligen Tiere über unterirdische Gänge erreichen, ohne vom einfachen Volk gesehen zu werden.
    Wie die Blätter einer Blüte lagen fünf Freilaufflächen um die Stallungen herum, durch breite Wege voneinander getrennt. Nachts wurden die Tiere im Inneren eingeschlossen, tagsüber aber stand es ihnen frei, sich ihren Platz selbst zu suchen. Wenn alle Arbeit in Stadt und Wald getan war, traf man sich hier, um mit Opfergaben an die Tiere den Göttern zu huldigen.
    Animaya wählte den Pfad zwischen den Brillenbären und den Lamas. Solch seltsame Tiere gab es im Wald nicht. Der Sonnengott Inti hatte sie, so wurde gemunkelt, für einen früheren Inka vom Himmel fallen lassen. Beide Arten unterlagen den strengen Fortpflanzungsplänen des Herrschers, denn tote Tiere konn ten nur durch Nachwuchs ersetzt werden. Die Jaguarbestände hingegen wurden oft mit wilden Artgenossen aus dem Dschungel gekreuzt.
    Animaya betrat die Stallungen durch einen Nebeneingang. Drinnen herrschte trotz der fortgeschrittenen Zeit noch immer fröhliche Geschäftigkeit. Die Arbeit der Putzer war hart und dreckig, aber das Haremsfest vor Augen spuckten alle in die Hände, um sich endlich auch das selbst gebraute Bier schmecken zu lassen, das nur einmal im Jahr ohne jede Begrenzung ausgeschenkt wurde. Sie hielten sich also an das dritte heilige Gesetz:
    Das Volk des Inka lügt nicht, stiehlt nicht und ist nicht faul.
    Fünf Männer schoben gerade Unmengen an Exkrementen und verschmutztem Blattstreu in die Rinnen am Boden. Ein ausgeklügeltes System von halben gebrannten Tonrohren versorgte das Gehege drinnen und draußen ständig mit frischem Wasser. Hier, an einem kniehohen Abfluss, liefen die Kanäle zusammen. Durch den gemauerten Schlund dahinter wurden Dreck und übrig gelassenes Futter entsorgt und weit vor der Stadt in den Knochenfluss gespült. Tote Tiere hingegen verließen die Stadt äußerst selten auf diesem Weg, sie waren reserviert für Anaq und die anderen Kondore. Nur was sie übrig ließen, wanderte zu den Krokodilen.
    Als die Männer Animaya bemerkten, grüßten sie wie immer freundlich. Einen Teil dieses Respekts hatte sie sich in den vergangenen Jahren durch harte Arbeit verdient. Der weitaus größere Teil war aber wohl vorausschauender Natur. Falls die Generäle Animaya nicht auswählten, galt das schmale Mädchen als heißeste Kandidatin auf die Nachfolge des jetzigen Oberaufsehers des Geheges. Auf das Amt also, das bis vor zwei Jahren noch ihr Vater bekleidet hatte, der fast schon legendäre Tinku Chaki. Das meiste von seinem enormen Wissen hatte er nur seiner Tochter beigebracht. Und so wunderte sich niemand ernsthaft, als auch nach dessen Tod die Tiere unter der Obhut dieses Mädchens schneller gesund wurden, prächtiger gediehen und sogar häufiger warfen als bei anderen Pflegern.
    Â»Was tust du noch hier?«, flüsterte Hanka, der Lahme. Er war so lang wie sein Besen und genauso struppig. Animaya mochte ihn gern. »Du bist doch schon gebadet. Oder willst du bloß, dass die anderen Jungfrauen auch eine Chance haben?«
    Alle grinsten.
    Â»Selbst wenn sie sich Jaguarmist ins Haar schmiert, ist sie noch die Hübscheste«, wisperte jemand.
    Animaya wurde rot und beeilte sich, zu ihren Lieblingen zu kommen. Sie spürte einen Stich im Herzen und wollte keine Zeugen, falls Tränen in ihre Augen traten. Weinen war verboten, im Reich des Inka sollte immer Fröhlichkeit herrschen.
    Seit Animaya denken konnte, hatte sie Tinku Chaki zur Arbeit begleitet. Anfangs erlaubte er ihr nur, die Fütterung der Brillenbären und der Jaguare zu beobachten. Später, nachdem sich die Tiere an Animayas Geruch gewöhnt hatten, durfte sie mit in die Ställe der heiligen Lamaguas. Diese Kraftprotze nahmen hier eine Sonderstellung ein. Sie waren die einzigen Göttertiere, die nicht nur angebetet, sondern auch als Nutztier verwendet wurden – hauptsächlich im Kampf und als Lasttiere für die Karawanen von den äußeren Feldern.
    Was für ein Anblick musste Animaya damals abgegeben haben! Ein kleines Mädchen inmitten der wilden, riesigen Reittiere, ohne jegliche Angst und Scheu. Schon früh hatte Animaya

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