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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Palast und Tempel herum gewachsen und die Angehörigen der Mittelklasse hatten die Wohnstätte des gottgleichen Inka bei allem, was sie taten, stets vor Augen.
    Animaya und Pillpa hatten den Rand der Oberstadt erreicht und mussten sich überwinden weiterzugehen. Nicht ohne Grund teilte hinter den Gebäuden der Reichen eine zwei Mann hohe Mauer die Stadt. Die Tore waren unbewacht, denn die Mauer diente allein als Sichtschutz. Welcher Adelige wollte schon täglich an das Elend der Armen erinnert werden?
    Sie schlüpften durch eines der schmalen Tore. Dahinter reihten sich schäbige Baracken und verkommene Häuser dicht an dicht, kaum für das Fest geschmückt.
    Obwohl ihre Bewohner nur die niedrigsten Arbeiten verrichteten, wurden sie von den Aufsehern der Maisspeicher jeden Abend mit ausreichend Essen belohnt. Der Inka war allen Untertanen gegenüber groß zügig, so wenig sie auch zum Gemeinwohl beitrugen.
    Als sie mitten im Viertel angekommen waren, winkte Pillpa einen kleinen Jungen zu sich.
    Â»Wohnt hier eine Schweigende?«, fragte sie ihn freundlich.
    Der Junge nickte. »Ja, viele«, flüsterte er und zeigte mit seinem verdreckten Arm die Gasse hinunter. »Da und da und da und dann noch dahinten!«
    Â»Und heißt eine davon Imelda?«, schaltete sich Animaya in das Gespräch mit ein.
    Er nickte wieder und deutete auf ein niedriges, stark her untergekommenes Haus. »Imelda wohnt da vorne. Zwei Krie ger haben sie eben hierhergebracht. Wenn ich groß bin, werde ich auch Krieger!«
    Pillpa lächelte milde. »Das kannst du nicht. Dafür bist du in der falschen Kaste geboren. Kennst du die Gesetze denn noch nicht?«
    Der Kleine verzog das Gesicht und Tränen wallten in seinen braunen Augen auf. Er drehte sich um und verschwand leise schluchzend in einem düsteren Hauseingang.
    Als Animaya und Pillpa Imeldas Haus betraten, hielten sie die Luft an. Es stank bestialisch. Schon in der zweiten Kam mer wurden sie fündig. Dieser Raum war aufgeräumt und sau ber, jedoch ohne Möbel.
    Auch hier roch es nicht gerade frisch, aber weitaus besser, als im Flur zu den anderen Bewohnern. Ein paar Schalen, ein Becher und ein kleines Säckchen, das Mais oder Gewürze enthalten mochte, reihten sich auf einem schmalen Brett an der Wand aneinander. In einer Ecke stand ein Mörser, der schon bessere Tage gesehen hatte. Eine Feuerstelle gab es allerdings nicht.
    Die junge Frau lag ohne Decke auf dem Lehmboden und regte sich nicht. Kein Wunder, denn an ihrer Schläfe leuchtete ein handtellergroßer blauer Fleck.
    Â»Die Verrückte musste wohl gebändigt werden«, bemerkte Pillpa. Sie beugte sich zu Imelda hinunter. »Aber sie atmet noch.«
    Der Anblick der verletzten Frau war für Animaya kaum zu ertragen. Ein paar Dinge in ihrer Stadt waren ganz und gar nicht in Ordnung. Und irgendeine höhere Macht schien sie ausgerechnet vor dem Haremsfest genau darauf stoßen zu wollen. Aber wer? Und warum?
    Animaya wollte sich schon abwenden, um das Elend nicht länger ertragen zu müssen, als etwas Rotes hinter Imelda hervorsurrte: der Kolibri. Der winzige Vogel bewegte seine Flügel mit einer solchen Geschwindigkeit auf und ab, dass sie kaum zu erkennen waren. Über Animayas Kopf hinweg flog er aus der Kammer. An der Haustür pfiff er dreimal kurz, einmal lang. Dann verschwand er vor der drückenden Mittagssonne in einem neuen Versteck.
    Was hatte das zu bedeuten? Statt Antworten fand Animaya nur neue Fragen.
    Â»Was ist?«, fragte Pillpa, der Animayas gerunzelte Stirn nicht entgangen war.
    Â»Ich habe dir doch vorhin erzählt, dass mein Vater und ich ein geheimes Erkennungszeichen hatten«, sagte Animaya und kniete sich neben Imelda. »Drei kurze Pfiffe und ein langer. Seit heute Morgen taucht immer wieder ein Kolibri auf und pfeift genauso. Und er bringt mich dazu, etwas zu tun, was ich eigentlich nicht will. Jetzt soll ich wohl hierbleiben und mich um Imelda kümmern.«
    Pillpa blickte sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Ani, du machst mir Angst. Warum bist du heute so merkwürdig?«
    Animaya zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder der bewusstlosen Frau zu.
    Â»Imelda!«, flüsterte sie. »Imelda? So heißt du doch, oder?« Sanft ließ sie die Hand über den schmalen Rücken gleiten. Die Frau rührte sich nicht, die Krieger mussten ihr ganz schön zugesetzt haben. Animaya fühlte

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