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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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vor die Nase. »Seltsam, dass wir Blumen so schätzen, oder?«, sagte sie nachdenklich. »Sie haben doch gar keinen Nutzen für uns. Wir können sie bloß anschauen.«
    Animaya stutzte. »Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht.« Sie gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. »Sei mir nicht böse, aber ich muss weiter. Meine eigene Blume finden.«
    Ohne einen weiteren Umweg eilte Animaya zur Lagune. Anders als in ihrem Traum durchkämmten jetzt unzählige Wachen den Wald. Ihre Gesichter waren angespannt. Immer wieder blickten sie in die Baumwipfel. Kapnu Singa traute den Spinnenmenschen wohl zu, ihnen die Feier zu verderben, indem sie eines der Mädchen raubten, aussaugten und die Hülle kopfunter von einem Ast hängen ließen.
    Animaya wich den Männern aus und nahm denselben Weg wie am Vortag. Ohne Mühe fand sie den flachen Stein wieder. Tatsächlich neigte sich ihr eine schwere Blüte entgegen, die sich mit den Sonnenstrahlen nun vollends zu öffnen begann. Animaya war wie gebannt von ihrem Anblick, so herrlich schillerten die Blütenblätter in all den Farben des Regenbogens. Wie konnte sie dieses Prachtexemplar am Vortag nur übersehen haben?
    Beim Näherkommen hörte sie den Pfiff: dreimal kurz, einmal lang. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus. Der rote Kolibri schwirrte aus einer Baumhöhle auf die wundersame Blüte zu. Konnten Träume wirklich wahr werden? Vor ihr schwebte der Beweis. Geduldig wartete der kleine Kerl, bis sich die süß duftenden Blätter so weit entfaltet hatten, dass er an den Nektar kam.
    Plötzlich wurde Animaya bewusst, dass sie sich nicht an die wichtigste Regel im Wald gehalten hatte. Sie stand ganz allein in einem ungesicherten Abschnitt, ohne eine Waffe zur Verteidigung. Ihr Blick wanderte hoch zu den Baumwipfeln. Baumelte dort oben nicht ein Seil der Spinnenmenschen? Oder war das eine Liane? Während sie noch darüber nachdachte, sauste hinter dem Baumstamm eine Hand hervor. Die Faust schloss sich um den Kolibri und verschwand wieder, zurück blieb eine bebende Blüte.
    In Animaya stieg eine enorme Wut auf. Ohne an die Folgen zu denken, sprang sie um den Baum herum – und stand dem Fremden nun wehrlos gegenüber.
    Â»Du hast meinen Vogel umgebracht!«, empörte sie sich im Flüsterton. Vor ihrem Gesicht baumelte eine Kette aus Kroko dilzähnen. Augenblicklich wurde ihr klar, dass sie mit einem Krokodilreiter sprach. Einem jener dreckigen, aasfressenden Kreaturen, die ihren Vater umgebracht hatten.
    Obwohl, dieser hier roch eigentlich ganz angenehm, nach frisch gerupften Algen und Wasserkastanie. Vielleicht lag es daran, dass er noch kein ausgewachsenes Exemplar war.
    Animaya ballte die Fäuste. Wenn es ihr gelang, ihn gegen den Baum zu schubsen, hätte sie ein wenig Vorsprung. Ge nug, um zur Lagune zurückzukommen. Sie musterte den Feind.
    Der Junge war einen Kopf größer als sie, schmalschultrig und mit langen, ebenmäßigen Gliedern. Die Lende wurde von einem ledernen Schurz bedeckt, der Oberkörper war nackt. Perlen von Flusswasser hingen wie durchsichtiger Schmuck auf seiner Haut, schimmerten grünlich im zarten Licht. Am Gürtel hing eine kurze, zahnbesetzte Lanze, hinter seinem Kopf erschienen die Spitzen eines Jagdbogens und eines Köchers.
    Noch immer verblüfft, sah Animaya ihm ins Gesicht. Er wirkte ernst, zurückhaltend und nachdenklich, Eigenschaften, die überhaupt nicht zu seiner miesen Tat passten. Das musste die Niederträchtigkeit sein, die ihre Lehrer gemeint hatten.
    Â»Wie kannst du nur einen harmlosen Kolibri töten? Macht dir das Spaß?« Ihre Stimme zitterte bei jedem Wort.
    Die Augen des Jungen blitzten. »Und wenn dem so wäre?«
    Animaya spuckte angewidert auf den Boden. »Dann wärst du sogar noch abscheulicher als alle anderen deiner Rasse!«
    Sie holte aus, um ihm eine Ohrfeige zu verpassen. Doch ehe ihre Hand seine Wange traf, hatte er sie schon am Gelenk gepackt. Sein Griff war kräftig, aber nicht grob.
    Â»Wie ich sehe, bist du noch ungeschickter als alle anderen deiner Rasse!«, spottete er. Ein leichtes Schmunzeln umspielte seine Lippen. »Aber deine Augen funkeln wie die Sterne in der Nacht, wenn du dich aufregst. Das gefällt mir.«
    Sterne? Was sollte das sein? Animaya zerrte an ihrem Arm. Da sie ihn nicht freibekam, trat sie dem Jungen gegen das Knie.
    Mit einem Lachen,

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