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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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ja glauben! Nach der Arbeit waren Tinku Chaki und sie immer ins Vogelhaus gegangen, zu Vaters geliebten Kolibris. Oft hockten sie dann in dem goldenen Käfighaus, umschwirrt von den daumengroßen Vögeln. Nicht selten vergaßen sie vor lauter Glück, das spärliche Abendessen einzunehmen. Tinku Chaki wirkte dann zeitweise wie abwesend, tief in sich gekehrt. Animaya vermutete schon damals, dass er in diesen Momenten von ihrer Mutter träumte.
    Â»Die Welt ist schön, Animaya«, hatte er ihr einmal gesagt, als wäre dies eine Neuigkeit. »Wenn ich sterbe, möchte ich als Kolibri in unseren Wald zurückkehren. Dann bin ich frei, zu tun und zu lassen, was ich selbst für richtig halte.«
    Da war es wieder, das Wort frei . Wie in seinem Schlaflied. Eigenartig, dass ihr das bisher nie aufgefallen war …
    Â»Können Tote auf die Erde zurückkommen?«, wisperte Animaya wie beiläufig.
    Vinoc sah betreten auf seine zerfurchten Füße. »Wenn ich wiederkomm, dann will ich Bohnen säen.«
    Wisya antwortete nicht. »So, dein Haar ist fertig«, sagte sie stattdessen. »Jetzt kleide ich dich an.« Sie wandte sich an die Männer. »Raus mit euch!«
    Calico griff seine Schüssel und verbeugte sich vor Animaya. »War … war nicht so gemeint …«, stammelte er und verließ die Kammer.
    Wisya machte eine kaum merkliche Bewegung mit dem Kopf. Vinoc erwiderte sie und folgte dem Klingenschleifer nach draußen, blieb aber wie ein Wachtposten breitbeinig im Gang stehen. Als könnte er so alles, was ab jetzt gesprochen wurde, daran hindern, den Raum zu verlassen.
    Wisya nahm Animayas zarte Hände in ihre faltigen. Unter ihrem festen Griff knackten Animayas Fingerknöchel.
    Â»Frag nie wieder nach den Toten, wenn dir dein Leben lieb ist! Erst recht nicht, wenn Calico dabei ist – du redest dich ja um Kopf und Kragen!«
    Animaya sah sie verwirrt an. »Warum …?«
    Â»Du willst etwas über die Toten erfahren und warum Tupac sie fürchtet?«, flüsterte Wisya kaum hörbar. »Weil sie wissend sind und sich nicht mehr an seine Gesetze halten müssen.«
    Animaya presste instinktiv den Rücken gegen die schützende Wand. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wovon die Bäuerin da redete.
    Â»Einst hatte unser Volk viele Götter, nicht nur Inti, den Sonnengott. Jede Familie, jeder Stamm betete zu einem anderen. Doch schon auf dem dritten Konzil verbot der damalige Inka alle anderen Götter, bis auf seinen Vater.«
    Â»Warum tat er das?«
    Andere Götter als Inti? Animaya wusste nicht, ob sie das glauben sollte. Und woher nahm die einfache Bäuerin plötzlich ihre klugen Antworten? Ihre Sprechweise, ja ihr ganzer Gesichtsausdruck hatten sich verändert. Die sonst so trüben Augen blitzten auf einmal voller Leben.
    Â»Um seine Macht weiter auszubauen. In früheren Zeiten war der Inka nur einer unter vielen. Nach dem Verbot hingegen war er die unumstößliche Nummer zwei in unserem Kosmos, beinahe gleichrangig mit Inti. Flüstern ist anstrengend, da spart sich jeder die Worte für das wirklich Wichtige. Nicht für alte, abgelegte Götter. Und da dem flüsternden Volk jede Möglichkeit fehlt, Wissen anders als durch Sprache zu bewahren, verblasste die Erinnerung an die früheren Götter von Generation zu Generation immer mehr. Schließlich glaubte der Inka, sie seien ganz in Vergessenheit geraten.«
    Wisya hielt kurz inne, bevor sie wisperte: »Aber die Toten erinnern sich!«
    Animaya merkte, wie sich alles in ihrem Kopf drehte. Das Fest, der Kolibri, ihr Vater, alte Götter, der Krokodilreiter …
    Â»Und woher … woher weißt du das alles?«, stammelte sie.
    Das Flüstern der Bäuerin wurde noch leiser. »Die Toten sagen es mir.«
    Animaya lachte lautlos auf. »Oh, ich verstehe! Du nimmst einen Knochen und unterhältst dich mit ihm.« Sofort tat ihr die sarkastische Bemerkung leid, doch Wisya fuhr unbeirrt fort.
    Â»Wir verschwinden nicht mit unserem Tod«, erklärte sie ruhig. »Die Körper verwesen, aber das, was einen ausgemacht hat, besteht weiter. Wenn es einem Menschen nicht gelungen ist, seine Aufgabe auf der Erde zu Ende zu führen, bleibt seine Energie in einer anderen Form zurück. Unsere Ahnen nannten diese Energie Wak’a. Die Geister der Toten sammeln sich oft an heiligen Orten: am Baum der

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