Der blutrote Kolibri
dachte an Pillpas Worte, dass die Menschen Blumen schätzen, obwohl sie ihnen nichts nutzen. Und an den Krokodilreiter, der sie gepflückt hatte. Auch wenn an seinen Fingern Blut kleben sollte, wollte Animaya sich die Freude an der wunderschönen Blüte von ihm nicht nehmen lassen.
Als sie den Kopf zu Wisya umwandte, bemerkte sie das Lächeln im Gesicht der Alten. Animaya mochte sie ebenfalls. Sie sah in der Bäuerin so etwas wie eine GroÃmutter â auch wenn sie dafür das Gefasel von Vinoc ertragen musste. Wisya war ein einfacher, aber herzlicher Mensch, der niemandem etwas zuleide tat. Aus Lästereien hielt sie sich heraus und um ihren verwirrten Mann kümmerte sie sich mit einer Geduld, die nur Liebende aufbringen. Ãber die letzten Monate waren die beiden zu einer Art Ersatzfamilie für Animaya geworden.
Nun wurde es also ernst. Die unterschiedlichsten Gefühle stürzten auf Animaya ein: Hoffnung, Sehnsucht, Dankbarkeit und die bleierne Angst vor der Einsamkeit. Sternauge . Würde sie die Liebe jemals kennenlernen, wenn sie dem Ruf des Inka folgte?
Ganze Nachmittage lang hatte sie sich bei der Arbeit ausgemalt, wie das Haremsfest ablaufen würde. Die bewundernden Blicke und den stillen Jubel ihrer Nachbarn. Jetzt war der groÃe Tag gekommen und dieser blutrote Kolibri brachte alles durcheinander. Sein Pfeifen war ein Rätsel, das sie noch immer nicht gelöst hatte. Woher kannte der Vogel nur das Geheimzeichen ihres Vaters?
Animaya biss die Zähne zusammen. Bei den meisten anderen Mädchen kümmerten sich jetzt die Eltern um die Vorbereitungen, nicht die Nachbarn. Sie trugen die Kleider, mit denen schon ihre Mütter voller Hoffnung vergeblich auf dem Festplatz gestanden und auf die kritische Musterung der Generäle gewartet hatten. Ihr hingegen blieb nichts anderes übrig, als ein sauberes, aber einfaches Kleid anzuziehen. Das Gewand ihrer Mutter gab es nicht mehr, denn sie war darin begraben worden.
»Erzählt mir von meiner Mutter«, unterbrach Animaya plötzlich Calicos Schmatzgeräusche. »Ich habe nicht die kleinste Erinnerung an sie.«
Wisya hielt kurz inne, als müsste sie überlegen. Dann kämmte sie weiter, war aber mit einem Mal ungewöhnlich grob. Als wollte sie Animaya für etwas bestrafen, was ihre Mutter den Nachbarn angetan hatte.
»War â ne Schönheit, so wie du. EbenmäÃige Haut, glänzendes Haar, ansteckendes Lächeln. Wenn sie den Mund aufmachte, kamen nur kluge Worte raus. Jeder Mann Paititis betete sie heimlich an. Aber gewollt hat sie nur deinen Vater. Und dann war sie tot, gestorben bei der Verteidigung unserer Freiheit â und du warst grad mal zwei.«
Animaya winkte enttäuscht ab. Diese Sätze hatte sie schon so oft von Wisya gehört. Hohle Phrasen in der derben Ausdrucksweise der Bauern, als würde sie auf dem Kartoffelacker ein Schauermärchen erzählen. Die Eigenschaften, die sie nannte, klangen schön und schmeichelnd und wärmten Animayas Herz, doch sie ergaben kein Gesamtbild. Wie Scherben eines Krugs, die sich nicht wieder zusammenfügen lieÃen.
Aber dann fiel Animaya etwas auf: Hatte die alte Bäuerin das Wort Freiheit sonst auch schon so überdeutlich ausgesprochen?
Calico lachte überheblich. »Wenn sie so einzigartig war, ist es ja ein Wunder, dass der Inka sie nicht nahm, sondern für Tinku Chaki übrig lieàâ¦Â«
Er wandte sich Beifall heischend an Vinoc, aber der alte Bauer kratzte sich an der Nase und verzog keine Miene.
Animaya spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Die Bemerkung von Calico war ungemein verletzend. Genauso gut hätte er ihr eine seiner Obsidianklingen in den Leib rammen können, der Schaden wäre nicht gröÃer gewesen. Und das Schlimmste: Er hatte Recht. Die schönsten Frauen nahm sich der Sonnensohn. Wisya tischte ihr also voller Absicht faustdicke Lügen auf.
»Alter Narr!«, schimpfte Wisya leise und streichelte Animayas Kopf. »Was weiÃt du schon! Wenn meine Worte nicht wahr sind, so will ich auf der Stelle tot umfallen! Mausetot, jawohl!«
Wisya holte tief Luft. »Animaya, glaub mir, die Liebe zwischen deiner Mutter und ihrem Mann war einzigartig«, fuhr sie mit sanfter Stimme fort. »Und du, meine Schöne, warst ihr gröÃter Schatz â wertvoller als ein voller Maisspeicher in knap pen Zeiten.«
Animaya seufzte tief. Sie wollte es
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