Der blutrote Kolibri
»Es tut weh, aber es muss sein. Du bist unsere Hoffnung. Sieh der Wahrheit ins Gesicht, werde erwachsen, indem du Kind bleibst.«
Animaya bekam kaum noch Luft. Röchelnd versuchte sie, Sauerstoff durch ihre Kehle zu saugen, aber die eiskalte Klaue umklammerte ihren Hals. Mehr und mehr schwanden ihr die Sinne.
Jetzt tauchten Bilder vor Animaya auf, furchtbarer als jeder Albtraum. Animaya wollte vor ihnen die Augen verschlieÃen, aber jedes Mal, wenn sie es tat, flammte der Schmerz in doppelter Stärke auf.
Zerlumpte Gestalten zogen durch die Kammer, klagend, mit vor Hunger aufgeblähten Bäuchen. Albinas, von bronzenen Ketten in die Länge gezogen. Spinnenmenschen, die sich unter der unerbittlich knallenden Peitsche eines Generals duckten und mit zittrigen Händen Maiskolben von den Stängeln rissen. Kreischende Angehörige des flüsternden Volkes, denen auf Hauklötzen die Finger abgeschlagen wurden. Bis auf die Knochen abgemagerte Leichen vor einem überquellenden Maisspeicher. Blinde Mädchen in den Gewändern der Priesterinnen, die hilflos umherirrten. Tod und Qualen und Folter und jede erdenkliche Grausamkeit, die Menschen einander antun konnten, marschierten Hand in Hand an Animayas Bettstatt vorbei. Und dazwischen der strahlende Inka und die Coya, seine Königin, in einer goldenen Sänfte, umjubelt von mehr als viertausend Untertanen und bewacht von fast eintausend Kriegern.
»Tinku Chaki hat dich nie verlassen!« Wisyas Stimme übertönte die Schmerzensschreie der Unglückseligen. »Er ist Wakâa, dein Geistesführer, vertraue ihm von ganzem Herzen. Nimm seine Kraft in dir auf, spüre seine Energie, und alles ist möglich! Folge einfach dem Vogel!«
Aus dem pechschwarzen Maul eines brüllenden Spinnenmenschen schlüpfte der Kolibri. Unbeholfen schwirrte er durch Leid und Tod hindurch zum Inka, durchbohrte mit seinem langen Schnabel die Brust des Göttlichen und nährte sich von dessen Blut. In rasender Geschwindigkeit wuchs er über den Sonnensohn hinaus, wurde gröÃer als die höchsten Bäume des Waldes. Wuchs weiter, bis er den gesamten Himmel verdunkelte. Dann erhob er sich, öffnete den Schnabel und lieà das gestohlene Blut herausflieÃen. Wie ein roter Wasserfall schoss es zur Erde, warf die Sänfte um, ergriff die Generäle und Wachmänner, den Inka und seine Coya. Es spülte die Menschen in den Knochenfluss, direkt vor die Mäuler der gierigen Krokodile.
Schlagartig wurde es wieder still. Die Wände des Raums weiteten sich, das Krächzen der Palastpapageien ertönte, die feuchte Luft des Dschungels drängte den süÃlichen Duft zur Tür hinaus. Die Klaue um Animayas Kehle löste sich.
Kraftlos blinzelte sie. Vor der Pritsche knieten Wisya und Vinoc und tätschelten ihr voller Sorgen die Wangen. Dann wurde um sie herum alles schwarz.
SCHÃNDLICHE WORTE
Animaya kam wieder zu sich, als jemand an ihrer Schulter rüttelte.
»Alles in Ordnung?«, flüsterte Pillpa besorgt. »Du bist ja bleicher als ein Kondorschnabel!«
Animaya war, als hätte die Stimme ihrer Freundin sie aus einem finsteren, feuchten Grab gerissen. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie glaubte sich zu erinnern, zuletzt im Bett gelegen zu haben, nun aber stand sie eindeutig auf den Beinen, wenn auch auf sehr wackeligen.
Kurz versuchte Animaya, die Augen zu öffnen, doch sofort kam der Schmerz zurück und mit ihm die Erinnerung an die schlimmsten Momente ihres Lebens. Sie hatte in einen Abgrund gesehen, den Abgrund ihres Volkes, in dem alles so gut und gerecht organisiert schien.
»Wo bin ich?«
An ihrer Seite lachte Pillpa leise. »So aufgeregt, wie du bist, weiÃt du das ganz genau â und so herausgeputzt. Meine Güte, du legst es aber wirklich drauf an!«
Sie berührte etwas auf Animayas Kopf, die bunt schillernde Blüte.
Animaya holte tief Luft, sog den Duft der Blume ein und schlug noch einmal die Lider auf. Bäume, Gemäuer und Menschen um sie herum zeichneten sich in unterschiedlichen Graustufen ab, als hätte ein Ameisenbär mit seiner langen, klebrigen Zunge die Farben aus ihnen herausgesaugt. Oder ein Kolibri â¦
Erst langsam lieà das Brennen nach und die Konturen um sie herum nahmen wieder dreidimensionale Formen an. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, umgeben von dicken Wolken.
Sie waren auf dem kleinen Hügel vor der Stadtmauer,
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