Der blutrote Kolibri
lächelnden Lianen, dem brennenden Tränenbusch, dem Sprung des Knochenflusses. An diesen Orten kannst du ihre Gegenwart spüren.«
Von den Orten, die Wisya da aufzählte, hatte Animaya noch nie im Leben gehört. Doch dann traf sie eine Erinnerung wie ein Blitz. Sie selbst hatte ihren Vater einmal tief in den Wald zu einem riesigen toten Baum begleitet, der seine kahlen Ãste wie ein klagendes Weib zum Dach des Urwalds streckte. Tinku Chaki hatte sich dort flach auf den Bauch gelegt. Zuerst hatte Animaya gedacht, ihr Vater trinke das frische Wasser der dort entspringenden Quelle. Dann aber hatte sie ihn flüstern gehört, Worte an seine verstorbene Frau.
Sie hatte es ihm gleichgetan, sich hingeworfen und mit ihrer Mutter gesprochen. Irgendwann hatte Tinku Chaki sich wieder aufgerichtet.
»Es reicht!«, hatte er gesagt, nicht geflüstert, denn die Stadt war weit weg. Animaya hatte aufgeschaut und ihren Augen nicht trauen wollen. Der eben noch kahle Baum stand in vollem Laub und trug Blüten. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie sich über das Surren gewundert hatte. Erst bei genauerer Betrachtung hatte sie bemerkt, dass es keine richtigen Blätter und Blüten waren, sondern unzählige Kolibris, die sich auf de m toten Holz niedergelassen hatten. Auf dem Rückweg hatte sie sich so leicht gefühlt, als würde sie, getragen von den kleinen Vögeln, durch die Lüfte fliegen.
»Wakâa kann aber auch in einem Stein sein«, ergänzte Wisya, »oder in einer Figur aus Holz oder â¦Â«
»â¦Â in einem Kolibri?« Animayas Herz klopfte immer heftiger.
Wisya suchte ihren Blick. »Mein Mädchen, heute wirst du in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen. Bleibe trotzdem wie ein Kind, dann wirst du sehen. Die meisten vergessen alles und leben blind vor sich hin â wie Calico.«
»Was willst du damit sagen? Und warum erzählst du mir das überhaupt?«, entfuhr es Animaya. »Wenn ich dich anzeige, verlierst du mindestens zwei Finger.«
Wisya antwortete ungerührt: »Vinoc und ich sind alt, wen kümmert es, ob wir reden oder schweigen? Aber in dich legen wir alle unsere Hoffnungen, in dich â¦Â«
»Ich werde euch nicht enttäuschen«, sagte Animaya leise. Sie meinte damit, ihnen Ehre zu erweisen, indem sie Konkubine wurde. Darauf waren sie doch alle aus. Oder hatte Wisya auf etwas anderes angespielt?
Die Bäuerin schüttelte den Kopf, als hätte Animaya sie mit ihrer Antwort enttäuscht. Wortlos holte sie ein kleines Töpfchen, dessen Ãffnung mit einer Baumrinde verschlossen war, aus den Tiefen ihres Umhangs. Kaum hatte sie die Rinde herausgezogen, breitete sich ein süÃlicher Geruch in der Kammer aus.
Wisya entnahm dem Töpfchen etwas Paste, fuhr damit durch Animayas Haar und sagte mehr zu sich selbst: »Auf dass die ganze Arbeit nicht umsonst war â¦Â«
Zwei Tropfen rannen über Animayas Stirn, blieben kurz an den Augenbrauen hängen und liefen ihr dann über die Lider. Durch die Körperwärme schien sich die Paste verflüssigt zu haben. Als Animaya die Tropfen wegwischen wollte, hielt Wisya ihre Hand zurück. Animaya sog scharf die Luft ein, als die Flüssigkeit ihre Netzhaut berührte. Sie blinzelte, aber das Brennen verschwand nicht.
»Damit du siehst«, murmelte Wisya, und es klang wie eine Zauberformel. »Jetzt öffne die Augen richtig. Nun mach schon!«
Als Animaya gehorchte, traf sie der Schmerz mit voller Wucht. Wie tausend Nadelstiche. Tränen liefen ihr über die Wangen und sie schwitzte am ganzen Körper. Verschwommen nahm Animaya wahr, wie die Wände ihrer Kammer aufeinander zurasten und sie zu zerquetschen drohten. Schwarzer Nebel quoll aus den Fugen der Mauer. Er roch so süÃlich wie die Paste, die Wisya ihr ins Haar gestrichen hatte.
Animaya drehte sich der Magen um. Stöhnend lieà sie sich auf die Pritsche kippen und hechelte nach Luft. Sie trat panisch um sich, wollte schreien, aber aus dem Dunkeln der Kammer heraus schob sich eine krallenbesetzte Hand über ihre Lippen. Dahinter erschien das Gesicht einer Frau mittleren Alters, mit bleicher Haut, weiÃen Haaren und verschlossenen Augenlidern â eine Albina mit Wisyas Gesichtszügen. Kurz zuckte in Animaya die Gewissheit auf, dass sie hier und jetzt sterben würde.
»Ich weiÃ, ich weiÃ!«, hörte sie die Albina mit Wisyas Stimme sagen.
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