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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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vermerkten es mit sorgenvollen Gesichtern.
    Damit die Zeremonie nicht gestört werden konnte, bildeten fünfhundert Elitekrieger einen weiten Kreis um die Straße und den Festplatz herum. Bis zur Brust standen sie in Büschen und hohem Farn, die Schwerter und Speere gezückt. Ihren Augen entging nichts, denn sie wussten, eine Unachtsamkeit konnte den qualvollen Tod bedeuten. Den eigenen und den ihrer Freunde und Familien. Oft genug schon hatten die Spinnenmenschen versucht, das Haremsfest aus reiner Böswilligkeit zu stören. Doch noch ließ sich niemand blicken.
    Als die Spannung fast mit Händen zu greifen war, schwang endlich das Stadttor auf. An der Spitze des Zuges ging traditionell der Chor der Schweigenden. Kaum hörbar schnatterten die Männer, Frauen und Kinder ein Lied, das keinen Text kannte. Trotzdem sangen sie es voller Inbrunst, aber leise wie das Zirpen der Grillen. Dabei liefen ihnen verbotene Tränen über die Wangen. Animaya suchte Imelda zwischen ihnen, fand sie aber nicht. Ihr Unbehagen wuchs weiter.
    Die Zuschauer stellten sich auf Zehenspitzen und reckten die Hälse. Seit dem letzten Fest vor dreizehn Monaten waren einige neue Mitglieder zum Chor dazugekommen. Ehemalige Nachbarn und Freunde, die sich auf irgendeine Weise am Volk schuldig gemacht hatten und von Tupac bestraft worden waren.
    Es folgte ein Dutzend Trommler in vier Dreierreihen. Schul ter an Schulter marschierten sie auf den Festplatz zu. Alle zwölf ließen ihre Handflächen in exakt gleichen Bewegungen auf ihre Trommeln niedersausen. Doch die Instrumente blieben stumm, denn ihnen fehlte das Fell.
    Hinter den Trommlern kamen vierzig Frauen mit Panflöten. Wild flogen ihre Lippen über die Blaslöcher, aber kein Pfiff ertönte. Denn die Rohre der Flöten waren mit Wachs versiegelt.
    Â»Ich will keine Konkubine werden«, platzte Animaya heraus. Ihre eigenen Worte überraschten sie. Schon als ihr Vater noch lebte, hatte sie jede Nacht diesen Traum gehabt: sie mit kostbaren Gewändern im Palast, Hunderte Untertanen, die sich vor ihr verneigten. Und jetzt …
    Pillpa lachte. »Was redest du denn da? Auf diesen Moment haben wir uns vierzehn Jahre lang vorbereitet!«
    Â»Hast du die Reiter vergessen, gestern am Brunnen? Und die gefangene Albina? Etwas stimmt nicht mit unserem Volk. Sie gaukeln uns das alles nur vor. Freiheit, Gemeinschaft und so. Das Fest soll uns einlullen, uns ablenken und zufriedenstellen.«
    Pillpa verzog das Gesicht. »Animaya! Halt den Mund! Oder willst du wie die da enden?« Sie zeigte zum Chor der Schweigenden.
    Â»Warum bringt Kapnu Singa eine Albina hierher? Wir alle flüstern, damit sie unsere Stadt nicht finden, und er …«
    Pillpa zuckte mit den Schultern. »Wenn jeder seine Aufgabe erledigt, ist ein Volk unbesiegbar. Er ist Tupacs engster Berater und der Inka ist unfehlbar.«
    Animaya fasste Pillpa am Arm. »Ich glaube, ich habe hinter den Vorhang gesehen. Wisya hat mir gesagt, ich solle ein Kind bleiben. Und was machen Kinder?«
    Â»Na ja, sie denken nicht so viel …«
    Â»Genau. Sie folgen einfach ihren Gefühlen. Imelda hat es bestätigt. Und ich spüre, dass ich keine Nebenfrau werden möchte.«
    Â»Du wirst aber nicht gefragt, Ani. Die Generäle wählen die Schönsten aus – und da führt kein Weg an dir vorbei.« Sie wandte sich verärgert von Animaya ab. »Und jetzt hör endlich auf, mir mein Fest zu vermiesen!«
    Mittlerweile waren die Musiker am Ende des Spaliers angekommen. Sie stellten sich zwischen den sechzehn Mumien auf, die im Halbkreis aufgebahrt waren – den Überresten der längst verstorbenen Inka, die das flüsternde Volk einst regiert hatten.
    Die Mumie von Huáscar stand in ihrer Mitte. Der Inka, der das Volk auf seinem friedlichen Feldzug hierhergeführt hatte. Die Priester hatten ihm zwei pechschwarze Obsidianstücke in die Augenhöhlen gelegt. Animaya lief ein Schauer über den Rücken. Zusammen mit der runzeligen Haut verliehen sie der Mumie große Ähnlichkeit mit Kapnu Singa.
    Jetzt traten drei Generäle aus dem Stadttor, in ihre schwar zen Rüstungen gekleidet. Die Zuschauer winkten lautlos, doch die Mienen der Generäle wirkten wie aus Stein gemeißelt. Ihre rastlosen Blicke erinnerten an erbarmungslose Kondore, immer auf der Suche nach wehrlosen Nagetieren. Die schweren goldenen Pflöcke, mit denen ihre

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