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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Ohrläppchen durchbohrt waren, hingen ihnen bis auf die Schultern. Sie alle gehörten der höchsten Kaste an. Nur ihnen war es wie dem Inka erlaubt, die Haare kurz zu tragen, was ihre stolzen Gesichtszüge noch betonte. Sie geleiteten die Jünglinge des Volkes, die sich im Wettkampf messen würden. Von ihnen wurden heute die Besten und Geschicktesten auserwählt und von Kapnu Singa zu Generälen zurechtgeschliffen. Der Ausschuss würde zur Sicherheit der Umsiedler zu den Feldern im Norden des Waldes geschickt werden.
    Animaya wippte nervös von einem Bein aufs andere. Der Drang in ihr wuchs, den Platz der Freude auf der Stelle zu verlassen, aber die Jungfrauen wurden durch eine Kette von Wachen vor der jubelnden Menge abgeschirmt. Ein Durchkommen war von beiden Seiten her unmöglich. Da entdeckte sie Nawi drei Mannslängen neben sich. Ihre zweitbeste Freundin winkte schüchtern, die kohlschwarzen Haare zu einem Dutzend Zöpfe geflochten. Animaya schob sich zu ihr durch.
    Â»Wer von uns wohl mit dir zusammen in Tupacs Palast kommt?«, begrüßte Nawi sie überschäumend.
    Warum nur waren alle so verdammt sicher, dass die Generäle sie aussuchen würden? Es fiel Animaya schwer zu glauben, wirklich so hübsch zu sein. Sollte sie vielleicht doch … Nein, ihre Entscheidung stand fest. Nur dass ihr Wille hier nicht zählte.
    Â»Ach hör doch auf und verrat mir lieber, wie ich von hier wegkomme.« Animaya zupfte sich die Blüte aus den Haaren und ließ sie, plötzlich davon angewidert, zu Boden fallen. Gepflückt von einem Krokodilreiter!
    Â»Wie wohl? Am Arm eines Generals. Direkt in den Palast!«
    Dann waren sie zum Schweigen gezwungen, die Prozession begann. Generäle trugen fünf Sänften aus massivem Gold durch das Stadttor. Dunkle Stoffe rundherum verhinderten, dass das gemeine Volk den Inka zu Gesicht bekam. Hinter einem dieser Vorhänge thronte er und ließ sich an seinen Untertanen vorbeitragen. In den anderen saßen seine Coya und enge Berater. Wo sich Kapnu Singa befand, war hingegen allen klar. Anaq, sein Kondor, hockte wie ein fleischgewordenes Mahnmal auf der vordersten Sänfte und spähte die Umgebung aus.
    In dem Augenblick, als alle fünf Sänften die Mauern Paititis hinter sich gelassen hatten, wurden seine Einwohner von einer euphorischen Begeisterung ergriffen. Die Reichen warfen Maiskörner und Tabak auf die Sänften. Frauen schleuderten Blüten. Die Bewohner des Armenviertels, die nichts hatten, außer einem löchrigen Hemd, rissen sich Wimpern aus und bliesen sie ihrem gottgleichen Herrscher entgegen. Viele hatten sich schwere Lasten auf ihr Kreuz geladen, um durch die Körperhaltung tiefste Demut zu demonstrieren.
    Â»Lob sei dir, Tupac!«, flüsterten sie. Es klang nicht lauter als das Rauschen der Blätter im Wind.
    Als die fünf Sänften zwischen den Mumien der Vorfahren abgestellt waren, sprang Kapnu Singa auf den Platz und führte eine Handvoll Generäle zu den Jungfrauen. Anaq zuckte aufgeregt mit dem Kopf hin und her. Es war nun für jede Flucht zu spät.
    Auf dem Platz wurde es totenstill. Der oberste Kriegsherr ließ seinen Blick über die Mädchen gleiten, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Animaya starrte zu Boden und verzog das Gesicht. Als ob das helfen würde! Schweiß lief ihr über die Schläfen. Die Wolkendecke hatte sich fast geschlossen und staute die feuchte Hitze nun wie unter einem Topf.
    Â»Du!«, stieß Kapnu Singa plötzlich aus. Er zeigte auf ein Mädchen, das Animaya entfernt bekannt vorkam. Einer seiner Männer wühlte sich wie ein hungriger Tapir durch den Pulk, griff den Arm der Auserwählten und präsentierte sie der Menge. Stiller Jubel brandete auf. Das Mädchen brach in Freu dentränen aus. Die eine Hand hielt es fassungslos vor den Mund, mit der anderen winkte es zaghaft den Zuschauern.
    Â»Du, du, du, du!«, wiederholte Kapnu Singa. Vier weitere Jungfrauen wurden zu den Sänften geführt. Noch immer waren Nawi, Pillpa und Animaya unter den Wartenden – und nur noch zwei galt es zu wählen.
    Animaya vermied jeden Augenkontakt mit Kapnu Singa. Sie sah zu Pillpa hinüber. Ihre Freundin zerbiss sich vor Anspannung die Unterlippe.
    Â»Nehmt mich!«, beschwor Pillpa den Berater des Inka gut hörbar. »Ich werde Tupac den Thronfolger gebären!«
    Kapnu Singa antwortete

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