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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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inmitten der anderen siebenundsiebzig Jungfrauen. Nun drangen auch die Geräusche wieder zu ihr durch, leise, wie durch einen Filter.
    Ihre Freundin Pillpa trug ein herrlich besticktes weißes Ge wand und hatte sich zusätzlich Lippen und Wangen mit Läuse blut gefärbt, wodurch sie noch gesünder und kräftiger wirkte. Ihr langes schwarzes Haar war sicher tausendmal gekämmt und schimmerte im gedämpften Licht unter dem Blätterdach. Wie angekündigt, war sie fest entschlossen, auserwählt zu werden.
    Â»Du siehst aber auch fantastisch aus«, sagte Animaya matt. Noch immer war ihr übel.
    Pillpa kicherte. »Ich bin nun mal zu Höherem geboren, als Mais zu ernten oder meine Geschwister zu bändigen. Ich muss in den Palast! Meine Eltern haben sogar zwei Hände Mais vor der Türschwelle vergraben – als Glücksbringer!«
    Animaya hörte nicht richtig zu. Wie kam sie hierher? Wo und wie hatte sie die letzten Stunden verbracht? Ihr Kopf fühlte sich leer an. Sie sah an sich herunter. Ein Kleid umhüllte ihren Körper, das sie noch nie gesehen hatte: blütenweiß, mit Silberfäden durchzogen. Es duftete nach Orchideen. Offenbar hatte Wisya es mit ein paar Blütenblättern eingerieben. Wisya …
    Die plötzliche Verwandlung an ihrem Bett fiel ihr wieder ein. War die Bäuerin eine Yatiri, die jedem Menschen die Sinne verwirren konnte? Die in das Geheimnis der Herstellung von Salben und Tinkturen eingeweiht war? Nein, das konnte nicht sein.
    Die Ausbildung zum Yatiri war hart und dauerte Jahre. Unmöglich, diese Fähigkeiten nebenher zu erlernen, neben der Arbeit und den vielen Pflichten für die Volksgemeinschaft. Außerdem waren alle Yatiri Männer und praktizierten ausschließlich in Palast und Tempel. Oder zur Abschreckung in der Öffentlichkeit, wie Kapnu Singa.
    War es da nicht wahrscheinlicher, dass die gefangene Albina in Wisya gefahren war, als Vorbotin der uralten Feinde? Feinde, die das flüsternde Volk nun endlich aufgespürt hatten, heimlich infiltrierten und dann wie Schmarotzer von innen aussaugten? Mit Kapnu Singa als willenlosem Gehilfen?
    Woher stammten die Bilder, die sie in ihrer Kammer gesehen hatte? Es mussten Bilder sein, die das gesamte flüsternde Volk in sich trug. Eine kollektive Erinnerung an die Vergangenheit – oder … an die Zukunft? Oder – die einfachste Erklärung – schlicht Einbildung.
    Â»Kann man vor Aufregung den Verstand verlieren?«, flüsterte Animaya.
    Â»Welchen Verstand?« Pillpa grinste. »Ich werd noch wirr wie Vinoc, wenn’s nicht gleich losgeht. – Zieh doch nicht so ein Gesicht, wir werden Nebenfrauen des heiligen Sonnensohns!«
    Animaya versuchte, sich zusammenzureißen. Diesen Tag hatte sie seit einer Ewigkeit herbeigesehnt, wie alle Mädchen des Volkes. Wer von Geburt an darauf getrimmt wird, nicht aufzufallen, freut sich auf den einen Moment, in dem er im Mittelpunkt stehen darf.
    Genieß es!, ermahnte sie sich selbst, wohl wissend, dass das nach den Erlebnissen der vergangenen dreißig Stunden unmöglich sein würde. Verdirb wenigstens Pillpa nicht auch noch das Fest!
    Vor ihrem inneren Auge tauchte der scheußliche Krokodilreiter auf. War er auch nur eine Fantasie gewesen? Animaya sah sich um. Wo waren Vinoc und Wisya? Das Bauernpaar musste ihr einiges erklären. Doch sie konnte die beiden in der Masse nicht finden.
    Auf dem Platz der Freude warteten fast fünftausend Men schen angespannt auf das große Schauspiel. Die ganze gepflas terte Straße entlang drängten sie sich aneinander, eine Allee aus Leibern.
    Alle, auch die Kinder, trugen Dolche mit Obsidianklingen am Gürtel, denn mit einem Angriff der Spinnenmenschen musste jederzeit gerechnet werden. Nicht wenige taxierten die Baumwipfel hoch über ihren Köpfen, wo diese Scheusale bevorzugt ihre Netze knüpften. Beinahe jeder hatte in den letzten Jahren ein Familienmitglied an den Erzfeind verloren. Langsam dahingerafft von ihrem Gift oder im Kampf gefallen. Doch auch dort oben schien es ruhig zu sein. Hin- und hergerissen zwischen Angst und Vorfreude, trippelten die Bewohner Paititis von einem Fuß auf den anderen. Trotz der Aufregung kam niemandem ein lautes Wort über die Lippen.
    Die Wolkendecke vor der Sonne wurde immer dichter, als wollte Inti das Fest seines Volkes in diesem Jahr nicht sehen. Die vierzehn Yatiri des Inka

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