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Der blutrote Kolibri

Der blutrote Kolibri

Titel: Der blutrote Kolibri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Körper bestimmen durfte, wofür lohnte es sich dann überhaupt zu leben?
    Animaya musste wieder einmal an Pillpa denken. Was ihre beste Freundin wohl gerade machte? Der Dienst im Tempel war sicher anstrengend, aber auch sehr ehrenvoll. Doch nicht für Pillpa. Das verzerrte Gesicht der geliebten Freundin, als man sie weggetragen hatte, würde Animaya wohl für den Rest des Lebens in ihren Träumen verfolgen.

MÜTTER
    Ein unmenschliches Heulen drang durch die Mauern, dumpf und wie aus weiter Ferne. Es würde wieder die ganze Nacht andauern, bis es einem Löcher ins Gehirn fraß.
    Pillpa tastete sich durch den Tempel. Es war dunkel. Seit der Auswahl am Hügel vor der Stadt träumte sie vom Wald. Nie hatte sie ihn so intensiv wahrgenommen wie in dem Moment, als Kapnu Singa sie durch die Luft geschleudert hatte. Jeden Duft, jedes Geräusch, jede Nuance von Grün hatte sie für immer in sich aufgenommen. Sie glaubte in der Lage zu sein, einem Unbeteiligten jedes einzelne Blatt in der Umgebung der Stadt am Tag des Haremsfestes beschreiben zu können. Der Wald war nicht böse, wie es das erste heilige Gesetz verhieß. Der Wald war großherzig und für alle offen. Er sperrte niemanden ein – so etwas taten nur die Menschen selbst. Diese simple Erkenntnis war ihr schon in den ersten Tagen ihrer Gefangenschaft gekommen.
    Pillpas Finger fanden den Eingang zum Treppenabgang in die Tiefe. Vorsichtig schob sie den linken Fuß über den steinernen Boden, bis er die erste Stufe erreicht hatte.
    Langsam gewöhnte sie sich an die neuen Lebensumstände. Seit ihrer Ankunft im Tempel war für sie alles in Finsternis getaucht. Kapnu Singa hatte es sich nicht nehmen lassen, die Obsidianklinge selbst in die Glut zu legen, bis sie vor Hitze fast zersprang. Während zwei Priester Pillpa die Augenlider mit Gewalt offen hielten, hatte der Oberbefehlshaber das Schwert genommen und es ganz dicht an ihre Pupillen geführt.
    Das Letzte, was sie von dieser Erde sah, sollte nicht das abstoßende Gesicht Kapnu Singas sein. Sie hatte die Augäpfel nach oben gerollt und einen blutroten Kolibri erblickt, der ruhig in der Luft stand. Pillpa hatte sofort gewusst, dass es der Vogel sein musste, der Animaya begegnet war. Sie hatte an ihre Freundin gedacht. Dann war der entsetzliche Schmerz gekommen, den sie noch immer in sich spürte. Der Schmerz, als ihr die glühend heiße Klinge die Hornhaut verschrumpelte. Seitdem war sie blind.
    Hunderte Mädchen vor ihr hatten das Schicksal angenommen und hier der Goldenen Maske gedient, dem großen Heiligtum. Viele von ihnen gerne und mit äußerster Hingabe. Bis auf den gottgleichen Inka kam niemand ihm so nahe wie die Priester und Tempeldienerinnen.
    Pillpa aber hatte die Schmach auf dem Festplatz nicht vergessen. Wie könnte sie auch? Ein Stoß ins Herz hätte nicht mehr wehgetan als diese öffentliche Demütigung. Nun war sie dreifach eingesperrt: in ihrer Blindheit, im Tempel und in der Stadt. Lediglich ihr Geist war noch frei, den konnte selbst Kapnu Singa mit seiner Macht nicht fesseln.
    Tagsüber fügte sich Pillpa still und folgsam den Abläufen in der Gemeinschaft, bereitete Mahlzeiten vor, kochte, holte Was ser am Brunnenschacht, lernte mit Hammer und Meißel umzugehen. Betete zu Inti, huldigte der Goldenen Maske vier Stockwerke unter der Erde. Im Dunkeln.
    Kein ungehorsames Wort kam während dieser Zeit über ihre Lippen. Kein Widerspruch, nicht einmal ein missbilligendes Verziehen des Mundes. Nichts deutete auf ihre wahren Gedanken hin.
    Nachts jedoch, wenn alle anderen schliefen, erkundete Pillpa die Umgebung. Jeder abgeschlossene Komplex dieser Größe hatte eine Schwachstelle, und Pillpa war fest entschlossen, sie zu finden und zu fliehen. Damit das Träumen vom Wald aufhören konnte und das wahre Leben begann.
    Das Heulen kam aus der Tiefe. Pillpa schritt ihm mutig entgegen. Schritt für Schritt, Stufe für Stufe. Eine kleine Plattform, das nächste Stockwerk. Und während sie mit angehaltenem Atem weiter hinabstieg, wurden die Schreie immer lauter und heftiger. Dann ertastete ihr Fuß keine Stufe mehr, sie war ganz unten angekommen.
    Â»Sage mir endlich, was du weißt, du Scheusal!«, hallte eine Stimme von den Wänden wider. Pillpa kannte sie nur zu gut. Es war Kapnu Singa, der so schrie.
    Einen Augenblick lang zögerte Pillpa. Hier unten war sie noch nie gewesen, kannte

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